vor ort: Lünen
: MIRIAM BUNJES über die dicke Luft einer Industriestadt

In Lünen soll ein neues Kohlekraftwerk gebaut werden. In der 90.000 Einwohnerstadt gibt es bereits eine Sondermüllverbrennungsanlage, eine Biomasseanlage, ein Kupferwerk – und ein Kohlekraftwerk. Die großen Parteien wollen das neue Kraftwerk wegen der Gewerbesteuer und den Arbeitsplätzen unbedingt. Eine Bürgerinitiative überzeugt allerdings immer mehr Anwohner vom Gegenteil.

Karl Kluge sammelt Haare. Seit Wochen überredet der Lüner Kinderarzt seine Patienten und ihre Eltern zu einer Haarprobe. Ein Gramm Haar braucht er, das ist ein großes Büschel. Das lässt er im Labor auf Schwermetalle untersuchen. Die ersten Ergebnisse: Blei und Arsenbelastungen, die die Grenzwerte ums doppelte überschreiten. „Ich behandle überdurchschnittlich viele lungenkranke Kinder“, sagt Kluge. „Lünen hat sie krank gemacht, ich habe täglich mehr Beweise.“

Deshalb will eine Bürgerinitiative (BI) gegen eine Millioneninvestition des Stadtwerkeverbunds Trianel kämpfen. Ein Steinkohlekraftwerk wollen die Aachener in Lünen bauen – der Genehmigungsantrag läuft, Lokalpolitiker und -presse jubeln seit Wochen über Arbeitsplätze und Gewerbesteuer.

Die BI Kontra Kohle Kraft will das ändern. Erklärtes Ziel: Die Stadtpolitik so unter Druck zu setzen, dass sie – wie im März der Rat der Stadt Krefeld – einen Kraftwerksbau verhindert.

Fast 300 Lüner sind am Mittwoch Abend in den städtischen Hansesaal zur Infoveranstaltung der BI Kontra Kohlekraft gekommen. Kinderarzt Kluge unterstützt ein Kollege aus Krefeld – der seinen Kampf schon hinter sich hat. Auch der Allgemeinarzt Bernd Kaufmann fand seine Patienten auffällig krank. Als er erfuhr, dass Trianel ein Kohlekraftwerk in Krefeld bauen will, recherchierte er weiter und schrieb einen Brandbrief an seine Kollegen: Dass statistisch in Industriestädten wie Krefeld viel mehr Menschen an Lungenkrebs sterben als auf dem Land, dass es eindeutige Studien gibt, dass der Feinstaub aus Kohlekraftwerken schwer krank macht. Kaufmann überzeugte: 135 Ärzte – praktisch alle in Krefeld – schlossen sich zu einer Initiative zusammen und überzeugten die Lokalpolitiker.

Im Lüner Rathaus kann sich so etwas kaum jemand vorstellen. „Wir nehmen die Kritik der Bürger ernst, aber sie überzeugt uns nicht“, sagt Rolf Möller, Fraktionsvorsitzender der SPD, die in Lünen mit wechselnden Mehrheiten regiert. „Bei unser Arbeitslosigkeit sagen wir zu so einer Investition bestimmt nicht Nein.“ Zudem sei der Standort – der Stummhafen am Dortmund-Ems-Kanal – ein seit Jahren unbebautes Gewerbegebiet. „Bald wird es sinnvoll genutzt.“ Dass die Lüner Luft belastet ist, hält auch der Vorsitzende der zweitgrößten Fraktion, Friedhelm Schröter (CDU) für übertrieben: „Wir haben doch schwarz auf weiß, dass unsere Luft okay ist.“

Das steht tatsächlich in einem Schreiben des Umweltministeriums an den Rat der Stadt Lünen. Die Luft habe sich sogar, was den Schwefelgehalt angeht, deutlich verbessert. Nur die Arsen und Bleiwerte seien ums 20-fache erhöht. „Lünen ist kein Luftkurort, aber dramatisch ist die Lage auch nicht“, sagt Manfred Ungethüm, Lüner Projektleiter von Trianel. Im Genehmigungsantrag spricht Trianel von einer Erhöhung des Krebsrisikos von etwa einem Prozent bei einer vorliegenden Belastung, die normal sei für eine Stadt am Rande eines Ballungsgebiets. „Wir haben eine Sondermüllverbrennung, eine Biomasseanlage, ein Steinkohlekraftwerk, das bald einen zweiten Block baut, ein großes Kupferwerk – das ist mehr als genug“, sagt Thomas Matthée, Vorsitzender der BI. Der Saal nickt, die meisten unterschreiben den Einwohnerantrag. 4.000 Unterschriften bis August braucht die BI, dann muss der Rat noch einmal beraten. 2.000 gibt es schon. „Mit 10.000 könnten wir jede Wahl entscheiden.“