Kitakinder kriegen Hausarrest

Das Kita-Reformgesetz beschert Berlins Familien häufigere Bedarfsprüfungen. Die Folge: Viele Eltern müssen ihre Kinder länger zu Hause betreuen. Kitas befürchten verschlechterte Arbeitsbedingungen

VON SEBASTIAN KRETZ

Wenn Ilse Ziess-Lawrence hört, Berlin sei die Stadt der „Kitaplätze für alle“ mit familiengerechten Betreuungszeiten, rollt die Leiterin eines Kreuzberger Kindergartens die Augen. „Der Kontrast zwischen Selbstdarstellung und Wirklichkeit ist groß“, klagt die 52-jährige Leiterin über die Schikanen des Kitagesetzes. „Und es wird immer schlimmer.“

Statt großzügig Ganztagesplätze zu verteilen, hat der rot-rote Senat nämlich zusätzliche Bedarfsprüfungen eingeführt. Die neuen Schikanen sind Teil der Kitareform von 2005, werden aber erst seit Beginn dieses Jahres umgesetzt. „Dadurch können die Eltern nicht mehr langfristig planen, und der Tagesablauf der Kinder gerät durcheinander“, klagt Ziess-Lawrence.

Dabei steckt der Teufel im Detail: Bisher überprüften die Jugendämter nur einmal zu Anfang den Anspruch der Eltern auf einen Kitaplatz für ihr Kind. „Wenn der Vollzeitplatz bewilligt war, blieb es dabei“, erklärt die Erzieherin. So unkompliziert kommen jetzt nur noch Kinder in die Tagesstätte, deren Eltern keinen Bedarf über den Rechtsanspruch hinaus anmelden. Der setzt erst mit dem dritten Geburtstag des Kindes ein und liegt bei höchstens fünf Stunden am Tag. Wer Tochter oder Sohn schon in die Krippe schickt oder Vollzeitbetreuung braucht, muss den Bedarf nun routinemäßig zum zweiten Mal nachweisen, wenn das Kind drei Jahre alt wird.

Dadurch können sich absurde Situationen ergeben. Martha Geissler* etwa befürchtet, den Ganztagesplatz für ihre dreijährige Tochter zu verlieren. „Nach der Geburt meines zweiten Kindes vor drei Monaten bin ich in Elternzeit gegangen. Da ich nicht mehr arbeite, wird der Betreuungsanspruch wohl auf fünf Stunden pro Tag herabgesetzt“, sagt die 34-jährige Lehrerin. Geisslers Mann arbeitet ganztags. „Gerade jetzt brauchen wir die Vollzeitbetreuung für unsere ältere Tochter“, so Geissler.

Noch komplizierter ist es für Eltern, deren Anspruch auf Betreuung zeitlich begrenzt ist. Wer zum Beispiel einen befristeten Arbeitsvertrag hat oder an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnimmt, kann nur für diese Zeit Vollzeitbetreuung für seine Kinder in Anspruch nehmen. „Die Eltern fühlen sich als Bittsteller. Sie müssen immer wieder neue Gründe vorbringen, um die nötige Betreuung zu erreichen“, berichtet Kita-Chefin Ziess-Lawrence. „Um auch dann einen Vollzeitplatz zu ergattern, wenn nicht beide Eltern arbeiten, müssen die Familien immer mehr private Details offenlegen.“ So gelte zum Beispiel für Kinder, die in Notunterkünften leben, ein erhöhter Betreuungsbedarf.

Auch die Beschäftigten in den Kitas sind verärgert über die ständige Neuordnung des Bedarfs: „Wenn zu viele Kinder nur halbtags kommen, sinkt die Qualität der Betreuung“, sagt Erzieherin Ilona Heier. Nicht nur aus organisatorischen Gründen: Vollzeitbetreuung bringt den Kitas auch mehr Geld fürs Personal – wenn in einer Gruppe zu viele Kinder auf Halbzeitbetreuung herabstuft werden, fehlen irgendwann ErzieherInnen. Das hoch gelobte Berliner Bildungsprogramm könne sie so nicht umsetzen, klagt Heier.

In den Jugendämtern versucht man, die Wogen zu glätten: „Es ist noch nicht abzusehen, ob durch die verstärkte Prüfung weniger Bedarf anerkannt wird“, sagt Ute Fissler vom Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg. Für 2006 habe man nachgerechnet, ob die damals schon umgesetzten Regelungen der Kitareform zu Kürzungen geführt hätten. „Bis jetzt hat es keinen Abbau von Vollzeitplätzen gegeben“, beteuert Fissler.

Auf Schikanen und Nachrechnen ganz verzichten will Elfi Jantzen, Familienexpertin der Berliner Grünen: „Unser politisches Ziel ist es, möglichst viele Kinder in die Kitas zu bekommen. Deshalb sollte die von den Eltern beantragte Betreuung prinzipiell genehmigt werden.

* Name geändert