Neues Zuhause für die Subkultur

Die Straßenkultur im Ruhrgebiet hat eine neue Heimstatt. Im ehemaligen Haus der Falken in Herne bietet die „Pottporus Group“ jugendlichen Migranten eine Plattform für einen Lebensstil jenseits des kulturellen Mainstream

AUS HERNE HENK RAIJER

Die Spiegelwand ist gnadenlos. Wer den Beat verpasst und patzt, steht Aug‘ in Aug‘ mit seinem Gegenüber und begegnet dabei doch nur sich selbst. Kurzer Break im Dance, verstohlener Blick auf den Trainer, zurück auf Position. Eda Aktas tanzt, seit sie zwölf ist, hat alle guten Battles der letzten Jahre bestritten und will unbedingt zur Bühne. „Musik und Breakdance waren mir immer wichtiger als Schule und Ausbildung“, erzählt die 20-Jährige in der XXL-Basketballhose und dem schwarzen Sweatshirt, während sie sich die Kapuze zurecht rückt. In der Pottporus Dance School im Herner Heinz-Westphal-Haus ist die Dortmunderin heute „wegen Chris“ und seiner „Choreo“. Und weil sich die Kosten für einen Kurs bei Tänzer/Choreograph Chris Greiffenbach im ehemaligen Haus der Falken in Grenzen halten.

In dem frisch renovierten 60er-Jahre-Flachbau im Stadtteil Wanne-Eickel hat die Straßenkultur Einzug gehalten. Nach vier Monaten Knochenarbeit verfügt hier seit einigen Wochen die Pottporus Group über eine neue Heimstatt. Pottporus – das sind das Pottporus Festival, die Pottporus Dance School, Photo Brut, jüngstes Kind der Fotografenszene im Ruhrgebiet, und schließlich das Renegade Theatre, an dem ausgebildete Tänzer der Essener Folkwang-Hochschule zusammen mit einigen der besten Straßentänzer Deutschlands Stücke wie „Rumble“, „Streetlife“ oder „Cage“ einüben und bundesweit zur Aufführung bringen.

Der Name Pottporus setzt sich zusammen aus den Begriffen Ruhrpott als Symbol für den Melting Pot Ruhrgebiet und Bosporus für die Meeresenge, die die europäischen von den asiatischen Stadtteilen der türkischen Metropole Istanbul trennt. Bei allen vier Pottporus-Projekten mischt Kurt Schrage mit. Der Mitinitiator des Pottporus Festivals, das aus dem weit über Herne hinaus bekannten Straßentänzer-Wettstreit „Ruhrpott Battle“ hervorgegangen ist, versteht sich als Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten von jugendlichen Immigranten, die sich der internationalen Straßenkultur zugehörig fühlen. Einer Straßenkultur, in der weder die Religionszugehörigkeit noch die Schulbildung oder die kulturelle Identität eine Rolle spielen.

„Pottporus bietet Jugendlichen, deren Frustration über soziale Isolation und fehlende gesellschaftliche Akzeptanz in der Wahlheimat ihrer Eltern wächst, die Möglichkeit, ihre künstlerischen Potenziale zu entwickeln“, erklärt der drahtige Mittvierziger in Jeans und schwarzem T-Shirt vollmundig. Und stellt klar: „Wir sind keine Streetworker, machen hier auf keinen Fall den Problemlöser für die Stadt“, sagt Schrage. „Zum Abhängen ist das hier kein Treffpunkt. Aber wer tanzen, fotografieren, sprayen, Video, Musik oder Schauspiel lernen möchte, kriegt bei uns seine Chance.“ Besser als in Gewalt auf der Straße sei es allemal, wenn Jugendliche ihr Übermaß an physischer Energie in Kreativität umsetzten.

Hunderte Anmeldungen seien in den Wochen seit der Eröffnung bereits eingegangen, sagt Kurt Schrage, die meisten für HipHop-, Rap- und Breakdance-Kurse. „Unser Angebot richtet sich an jugendliche Migranten zwischen 14 und 25 Jahren und ist bewusst niederschwellig“, erklärt der Fotojournalist, der auch als Dozent für Fotodesign an der Ruhrakademie Schwerte tätig ist. „Wir haben tolle Trainer und wir sind mit 15 Euro Monatsgebühr billiger als jedes Fitnessstudio.“ Möglich sei dies durch das selbstlose Engagement einer Vielzahl von Künstlern aus der freien Szene in Herne oder anderswo in NRW, aber auch durch vereinzelte, projektgebundene Zuwendungen der Stadt und der Kulturstiftung NRW. Außerdem zahle Pottporus für das 550-Quadratmeter-Haus, das die Stadt der Gruppe mietfrei überlassen hat, lediglich die anfallenden Betriebskosten.

Große Hoffnungen setzt Schrage in den Projektantrag mit dem Leitthema Migration, den Hernes Kulturdezernentin Gudrun Thierhoff beim Bewerbungsbüro für die Kulturhauptstadt 2010 eingereicht hat. Dessen Leitung hat für heute die Vertreter der Ruhrgebiets-Szene zu einem ersten Gespräch über eine mögliche Förderung nach Essen eingeladen. Durch Pottporus‘ Funktion als Bindeglied zwischen Hoch- und Subkultur rechnet sich Kurt Schrage Chancen aus, vom Kulturhauptstadtkuchen etwas abzubekommen.

Unabhängig von der Entscheidung der Kulturhauptstadtverantwortlichen hält die Kulturdezernentin das Pottporus für ein Projekt, das eine nachhaltige Förderung verdient. „Kultur verändert sich auf der Straße, muss am Puls der Zeit sein“, sagt Gudrun Thierhoff. „Es ist unser Anliegen, die Jugendlichen und ihre kulturellen Ausdrucksformen zu vernetzen, unter einem Dach zu vereinen und so gemeinsam nach vorne zu bringen.“

„Wir machen hier mit Pottporus auf keinen Fall den Problemlöser für die Stadt“

Dass sich das nach Sozialarbeit und ‚Hauptsache weg von der Straße‘ anhört statt nach Kulturförderung, mag die auch für Bildung und Jugend zuständige Dezernentin nicht gelten lassen. Obwohl die Betreuung von Jugendlichen bei Pottporus ein „guter und gewollter Nebeneffekt“ sei – das Haus sei keineswegs der Versuch der Stadt, Straßenkultur zu domestizieren. „Jugendkultur ist nicht zu zähmen“, weiß Thierhoff. „Wir bieten den jungen Migranten eine kulturelle Heimat und sind zugleich froh, dass wir Pottporus in Herne behalten können.“ Schließlich habe das Pottporus Festival durch die Austragung des Ruhrpott Battle längst europäische Dimension.

„Hast du ein Talent? Dann mach‘ was draus!“ und „Talent verpflichtet“ lautet das Motto bei Pottporus, der Plattform für einen Lebensstil jenseits des Mainstream, einen Lebensstil, in dem der Respekt vor den Kulturen im Ruhrgebiet die Matrix bildet. Chris Greiffenbach hatte Talent, hat was draus gemacht und sieht sich wie viele andere, die als Tourtänzer bei Popgrößen oder als Theaterschaffende inzwischen international Karriere gemacht haben, in der Pflicht, seine Erfahrung begeisterungsfähigen Jugendlichen weiter zu geben. Der 23-Jährige mit dem Dreitagebart und dem um 180 Grad gewendeten Baseballcap kam 1989 als Spätaussiedler aus Polen nach Wanne-Eickel und tauchte als Elfjähriger in die Battle-Kultur ein, die die Kids im inzwischen geschlossenen Haus der Jugend im Stadtteil Bickern elektrisierte. Wenn er sich nicht gerade in Los Angeles auf eine „Audition“ vorbereitet oder mit Nelly Furtado auf Tour ist, trainiert der gelernte Fitnesstrainer in Wanne-Eickel jugendliche Rap-Fans. Greiffenbach weiß, woher die meisten stammen. „Da ist nichts, da sind nur Migranten“, erzählt er von Bickern, wo er selbst nach wie vor lebt. „Nur mit HipHop, Rap und Breakdance können sich die Jugendlichen dort identifizieren“, sagt der Tanztrainer, der in den zurück liegenden Jahren zahllose Battles gewinnen konnte. „Erfolgserlebnisse sind ganz wichtig“, weiß er aus Erfahrung. „Tanz fördert das Selbstbewusstsein.“

In Greiffenbachs Kursen, die jetzt im neuen Haus anlaufen, sind alle Nationalitäten vertreten. Trainiert er denn keine „deutschen“ B-Boys oder B-Girls in Waving, Krumping oder Popping? „Sicher kämen welche, wenn‘s teurer wäre“, witzelt der junge Mann. „Deutsche wollen nur Spaß, Ausländer sind ehrgeiziger, die wollen was erreichen.“