Klischees in den Köpfen

Die Debatte, die nach Identifizierung der Cabrio-Insassen auf dem World-Press-Foto des Jahres entbrannt ist, sagt mehr über die Erwartungen der Betrachter als über die gezeigte Situation selbst

AUS BEIRUT MARKUS BICKEL

Als Gert van Langendonck endlich den Kontakt zu Bissan Maroun hergestellt hatte, glaubte der belgische Journalist immer noch, am nächsten Tag auf eine reiche Christin aus Beiruts Ausgehviertel Aschrafieh zu stoßen. „Ich hatte dieselben Vorurteile über das Foto wie die meisten meiner Bekannten auch“, sagt der 41-Jährige. Doch die Zusammenkunft mit der 29-Jährigen und ihren beiden jüngeren Geschwistern stellte alle Klischees auf den Kopf: Nicht zum Kriegstourismus waren die auf dem World Press Photo des Jahres abgebildeten Libanesen in Beiruts zerstörter südlicher Vorstadt Dahye am ersten Tag nach Verkündung des Waffenstillstandes gekommen, sondern um ihre Wohnung zu begutachten.

„Das Bild erzählt vielleicht mehr über die Erwartungen der Betrachter als über die dargestellte Situation selbst“, sagt van Langendonck. Vier Wochen nachdem die Jury des World Press Photo den US-amerikanischen Fotografen Spencer Platt zum Sieger des Wettbewerbs kürte, kann sich van Langendonck vor Interesse an seinem Bericht über die fünf Insassen des orange Mini Cooper kaum noch retten. An ein Dutzend Zeitungen überall auf der Welt hat er die Story inzwischen verkauft, am Donnerstag erschien die Geschichte auch in Deutschland in der Zeit. „Was die Redaktionen reizt, ist, dass das Foto so gar nichts mit unseren ersten Reaktionen zu tun hat“, so van Langendonck. „Das Bild spricht viele verschiedene Ebenen an – und stellt unsere Vorstellungen darüber, wie Kriegsflüchtlinge auszusehen haben, auf den Kopf.“

Rückkehr ins Viertel

Denn Flüchtlinge waren auch die in hautengen T-Shirts an ihren nach Beginn der israelischen Bombardements verlassenen Wohnort zurückgekehrten Marouns. Während des Krieges harrten sie in einem Hotel in Beiruts sicherem Viertel Hamra aus, wo sie auch die beiden anderen Mitfahrer kennen lernten, ehe sie sich nach gut vier Wochen zurück nach Dayhe wagten. Kein Wunder, dass sich die fünf über die Unterzeile, mit der das Foto im September erstmals im französischen Magazin Paris Match erschien, ärgerten: „Reiche libanesische Christen als Kriegstouristen in den zerstörten Vororten von Beirut“, hieß es da.

Doch während in westlichen Redaktionen heiße Diskussionen über das Bild entbrannt sind, interessiert sich im Libanon kaum jemand für die von den Kriegsschrecken und der Unsicherheit der Nachkriegszeit abgehobenen Debatten. Schon während der Kämpfe zwischen israelischen Soldaten und der schiitischen Hisbollah waren unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen westlichen und einheimischen Rezipienten deutlich geworden.

So zettelten in Deutschland etwa die Zeitungen des Springer-Verlags eine Debatte über die Hintergründe des so genannten „Green Helmet Man“ an – der Zivilschutzmitarbeiter Salem Daher hatte nach dem israelischen Luftangriff auf das südlibanesische Städtchen Kana tote Kinder in die Kameras gehalten. Dieses Bild ziert noch heute Häuserwände in Beirut, allerdings mit gänzlich anderer Message: Keine Kritik der Hisbollah-Taktik, wie Bild und Welt das Foto nutzten, sondern als Anklage gegen die Unterstützung Israels durch die USA und andere westliche Staaten. „Oh UN der USA!“ steht in großen Lettern daneben.

Lana al-Kahlil, die ihrem Freund Jad Maroun das Cabrio an jenem ersten Tag nach dem Waffenstillstand auslieh, bringt die Kritik an der Auswahl der World-Press-Photo-Jury auf den Punkt: „Das Bild ist ein für westliche Betrachter gut verdaubares Abbild des Krieges und sehr weit weg vom blutigen Alltag, den der Libanon im vergangenen Sommer durchgemacht hat.“

Die 25-jährige fing schon nach Kriegsbeginn Mitte Juli an, sich bei der Hilfsorganisation Samidoun zu engagieren. Ein gutes halbes Jahr nach Kriegsende glaubt sie, dass eher ein anderes Bild den Preis verdient hätte: „Weshalb hat nicht ein Foto gewonnen, das wirklich repräsentativ für den Krieg steht und Menschen zeigt, die ihr Zuhause und Verwandte verloren haben?“, fragt sie enttäuscht. Eine Kritik, die auch der libanesische Fotograf Samer Mohdad teilt: „Diesen tödlichen Krieg mit einem derart einzigartigen Bild zusammenzufassen, ist eine Beleidigung für alle Fotojournalisten, die ihr Leben riskiert haben, um über diesen Krieg zu berichten“, schreibt er auf seiner Homepage www.mesarabies.com.

„Fassungslos“ habe ihn die Kritik gemacht, hält Preisträger Spencer Platt dagegen: Man müsse nur auf der Homepage seiner Agentur Getty Images (creative.gettyimages.com) nachschauen, um zu sehen, dass Hunderte seiner Bilder klassische Kriegsszenen zeigten. „Ich habe viele Risiken auf mich genommen, um den Krieg darzustellen.“

Vorurteile statt Foto

Dass manchen Betrachtern das Bild nicht gefalle, da ist er sich mit van Langendonck einig, habe mit deren Vorurteilen zu tun, nicht mit dem Foto: „Menschen mögen es nun einmal nicht, wenn man ihnen einen Spiegel vorhält“, glaubt er.

Der für heute angekündigte Beitrag über Medien in Venezuela erscheint am 6. 3.