Mehr Spaltungen als Aufbrüche

In einem zerfallenden Land: der Sammelband „Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft“ von Stephan Lessenich und Frank Nullmeier

VON WARNFRIED DETTLING

Bei dem von den Sozialwissenschaftlern Stephan Lessenich und Frank Nullmeier herausgegebenen Sammelband „Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft“ handelt es sich um eines der wichtigsten politischen Sachbücher der vergangenen Jahre, für die Politik und die öffentliche Debatte im Allgemeinen und ganz besonders für die Gewerkschaften bei der Suche nach ihrem Auftrag in einer veränderten Welt. Die Herausgeber hatten eine gute Hand bei der Auswahl der zwanzig Autoren. Vor allem aber haben sie es verstanden, in einer starken Einleitung („Deutschland zwischen Einheit und Spaltung“) die Gegenwartsanalyse so zu präsentieren, dass daraus beides deutlich wird: die Differenz zu der Epoche, die wir verlassen, aber auch die Notwendigkeit für politisches und gewerkschaftliches Handeln.

Anders als der Titel suggeriert, gibt es in der Gesellschaft Deutschlands nicht die eine Spaltung („Cleavage“), wie sie früher als soziale Frage (Klassenkampf) oder als religiöse Frage (Kulturkampf) gesellschaftliche Formationen und politische Parteien geschaffen und geprägt hat. Deutschland hat sich zu einer vielfältig fragmentierten Gesellschaft entwickelt. Man kann von den Konfliktlinien nur noch im Plural reden. Was die Herausgeber vorlegen, ist eine „Phänomenologie deutscher Spaltungen“, und die siebzehn Beiträge gehen diesen Spannungslinien im Einzelnen nach wie etwa jenen zwischen Arm und Reich, Kapital und Arbeit, sicher und prekär, beweglich und unbeweglich, Gewinner und Verlierer, Ost und West, Frauen und Männer, Eltern und Kinderlose.

Es ist die Absage an jede Vorstellung einer neuen Klassengesellschaft und jeder Verharmlosung des gesellschaftlichen Status quo zu einem bloßen Nebeneinander diverser Ungleichheiten. Die Autoren legen die Muster hinter all diesen Spannungen und Ungleichheiten frei, vor allem deren Überlagerung durch das ökonomische und durch das Konkurrenzdenken. „Deutschland erlebt die Zersplitterung einer von Konkurrenzen durchzogenen Gesellschaft, in der jede Lage, jede Gruppe ihr Heil und Wohl in kompetitiver Entgegensetzung zu anderen Gruppen und Lagern sucht und suchen muss.“

Der Band beschreibt, wie eine Gesellschaft zerfällt, nicht in große Klassen oder Lager, sondern in Gruppen und Grüppchen und Lebenslagen, denen allen gemeinsam ist, dass sie nichts Gemeinsames mehr haben und in ihrer Mehrheit auch nicht mehr daran glauben, dass es besser kommen wird. Das nämlich ist die zweite starke These dieses Bandes: der Kontrast der Gegenwart zur jüngsten und ferneren Vergangenheit. Es gab einmal eine kulturell homogene und sozial ausgeglichene deutsche Gesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet und wie sie im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebt hat. Vor allem aber gab es jenen Dreiklang zwischen Nationalstaat, Industriegesellschaft und reflexiver Politik im Sinne eines Einwirkens der Gesellschaft auf sich selbst. Die nationalstaatliche Gesellschaft sollte wieder in Ordnung bringen, was sich als Folge großer Veränderungsschübe (Industrialisierung) aufzulösen begann.

So ist eine konkrete Utopie Wirklichkeit geworden, und die Gewerkschaften können sagen, sie sind dabeigewesen. Es entstanden im Laufe der Zeit neue Strukturen und Mentalitäten und mit ihnen der kollektive Erfolg und das kollektive Selbstbild einer Gesellschaft, die weiß, wie eine gute Gesellschaft auszusehen hat: „kapitalistisch, aber doch sozial; nicht von materieller Gleichheit geprägt, aber doch mittelschichtszentriert; nicht wirklich partizipatorisch, aber doch solide demokratisch“. Es gibt ein positives Bild der Vergangenheit, aber es gibt kein positives Bild der Zukunft. Das ist die gegenwärtige Lage. „Zukunft, das meint heute: ein Weniger an Sicherheit, ein Mehr an Eigenverantwortung, ein Mehr an Wettbewerb, ein Weniger an Wohlstand für alle“.

Man mag es den Autoren nicht vorwerfen, dass sie nur wenig über eine Zukunftsperspektive nachdenken: Man kann nicht alles in einem Band machen. Und doch kommt für Politik und Gewerkschaften darauf alles an. Es gibt ein Bild von Moritz von Schwind aus dem 19. Jahrhundert, das die damalige (und heutige?) Leitkultur der Deutschen sehr schön einfängt. Zu sehen ist ein Wandergeselle, den Ranzen geschnürt und den Blick zurück auf jene gastliche Herberge, in der es ihm gut gegangen ist. Er möchte so gerne noch bleiben …

„Abschied im Morgengrauen“, so heißt es, und dabei lockt ein neuer Tag! Die deutsche Sprache kennt nur ein Wort für die Dämmerung, die die Nacht, wie für jene, die den Tag bringt. Lessenich, Nullmeier und ihre Autorinnen und Autoren haben die Dämmerung beschrieben und den Tag davor, die hohe Zeit und die Erosion des Wohlfahrtskapitalismus, wie wir ihn kennen. Nicht nur für die Gewerkschaften hängt aber viel davon ab, ob als Antwort auf die großen Veränderungsschübe unserer Zeit erneut so etwas wie ein Aufbruch möglich ist.

Stephan Lessenich, Frank Nullmeier (Hg.): „Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft“, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006, 374 Seiten, 24,90 Euro