Manches Mal ein Bier zu viel

Alte Lieder für junge Trinker: Der englische Jungspund Jamie T erklärt den überfüllten Mudd Club zum Piratenschiff und segelt, nach kleiner Flaute, zu guten Freunden

„Original Pirate Material“ heißt die erste Platte von The Streets. Am Dienstagabend im Mudd Club gibt es adaptiertes Piratenmaterial: Der Londoner Jungspund Jamie T spielt zum zweiten Mal in Berlin und hat sich für dieses Konzert überlegt, den Club zum Piratenschiff auszurufen. Für das mise en scène müssen allerdings eine kleine Totenkopfflagge und eine Krallenhand, die Jamie T ausfährt und dazu „Arrrr!“ macht, reichen. Die Krallengeste kommt wohl von Johnny Depps Jack Sparrow aus „Fluch der Karibik“. Wie gesagt: adaptiertes Piratenmaterial.

Zwar kommt der Streets-nahe Mix aus Ska, Hiphop und Postpunk zuerst eher uninspiriert daher. Nicht unwesentlichen Anteil daran hat der überfüllte Mudd Club selber, der mit seiner ramschigen Ausstattung und konzertunfreundlichen Raumgestaltung den Uncharme von Studentenbuden hat. Im Rock-Kontext verortet, wirken Jamie T und seine Begleitband The Pacemakers erst einmal wie typische Röhrenjeans-Jungs, die doch nur den fünften Postpunk-Aufguss präsentieren. Gern hätte man ihnen einen smarteren Raum mit mehr Platz sowohl fürs Publikum als auch für die Band gewünscht, in dem beide mehr tanzen können.

Mit seinem linkischen Gehinke und einem Styling, das das schlechteste von Moneybrother und „Eis am Stil“ verbindet – Flaum auf der Oberlippe! Goldring im Ohr! Gel in der Teddy-Tolle! –, weist Jamie T auch im Glamourbereich Minuspunkte auf. Spätestens bei „Come down dearest“ entfaltet sich aber sein Nerd-Appeal aufs Wundervollste. Mit meist geschlossenen Augen singt er das bittersüße Midtempo-Stück, das dem Subgenre „Lieder übers Trinken“ einen großartigen Aspekt hinzufügt: Hoffnungsvoll zieht man mit seinen Leuten durch die Stadt, doch was vom Abend übrig bleibt, ist der Freund, der einen irgendwann an der Schulter packt und sagt: „So. Du hast jetzt genug getrunken.“ Enttäuscht von den Verheißungen der Nacht, beruhigt von der Freundschaft, auf die man zählen kann – Pop kann so groß sein.

Wunderbar auch die Akustik-Version von Billy Braggs „A new England“, die Jamie T als Zugabe allein auf der Bassgitarre singt. Mit brüchiger Stimme und wenig Melodie gibt der 20-jährige dem Stück das teenage drama zurück, das es in den 22 Jahren seiner Existenz verloren zu haben schien. Ob das sehr junge Publikum das zu schätzen wusste? Schwer zu sagen – als er zwischendurch eine sehr lustige Parodie auf Mark Knopfler von den Dire Straits gibt, lachen auch die wenigsten. Und als die Band zum Schluss, nach etwas mehr als einer Stunde Spielzeit, ihre berühmten Mixtapes, die tatsächlich auf Kassetten aufgenommen sind, in die Menge schmeißt, witzelt einer im Ringelpulli: „Was ist denn das? Wo soll ich das denn reinstecken?“

Dass Jamie T als letztes Stück noch einmal „Come down dearest“ in einer Powerpunk-Version singt, ist dann genauso überflüssig wie das eine Bier, was man an guten Abenden immer zu viel trinkt. Dafür haben aber die Biere vorher ziemlich gut geschmeckt. HANNAH PILARCZYK