„Da ist etwas verloren gegangen“

FEMINISMUS Die Heinrich Böll Stiftung zeigt heute den Film „Anfangen“, ein Porträt der Philosophin Christina Thürmer-Rohr. Ein Gespräch über die Mittäterschaft von Frauen und die notwendige Solidarität von Männern

■ 78, ist Philosophin und Psychologin. Sie ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Feministische Theorie an der TU Berlin. Ihre Veröffentlichungen, etwa über die „Mittäterschaft von Frauen“, über Feminismus und Holocaust, haben heftige Kontroversen ausgelöst.

■ „Anfangen“, ein filmisches Porträt von Thürmer-Rohr von Gerd Conradt („Starbuck Holger Meins“), wird heute, 14. Oktober, um 18 Uhr in der Heinrich Böll Stiftung, Schumannstraße 8, vorgestellt. Danach diskutiert Thürmer-Rohr mit Sabine Hark, Professorin für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin, und Nivedita Prasad, Sozialpädagogik-Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

INTERVIEW HEIDE OESTREICH

taz: Frau Thürmer-Rohr, viele junge Frauen grenzen sich heute vom „Jammer-Feminismus“ der Siebziger und Achtziger ab. Schmerzt Sie das?

Christina Thürmer-Rohr: Zum Teil ist das Bild richtig, zum Teil falsch. Falsch ist, dass wir viel gejammert hätten. Richtig ist, dass es schon in den achtziger Jahren hieß: „Nur Opfer kriegen Geld“. Wenn man Geld fordert für Projekte, kann man nicht gleichzeitig sagen, Frauen sind das starke, revolutionäre Subjekt, sondern dann muss man sagen: Frauen sind geschädigt und unterstützungsbedürftig. Das war eine Zwangslage, vielleicht bis heute. Viele hatten sich in der Opferrolle eingerichtet.

Und es gibt ja auch Opfer.

Das bestreite ich nicht. Das Problem entsteht, wenn aus Opfererfahrungen Opferidentitäten werden, also die Gesamtperson sich als Opfer versteht. Sie ist aber viel mehr. Und schon gar nicht kann man diese Identität auf das ganze Geschlecht der Frauen, am besten auch noch weltweit anwenden. Ich wollte etwas anderes: nämlich die Verstrickungen der Geschlechter in dieses patriarchale System analysieren. Wenn man das tut, kommt die Mittäterschaft der Frauen ziemlich schnell in den Blick.

Sie haben mit der Mittäterschaftsthese auch den Differenzfeminismus kritisiert: Die Frauen, die das System eher stützen, indem sie sich auf ihre angebliche Weiblichkeit zurückziehen. Wo ist heute eine Mittäterschaft von Frauen zu finden?

Dort, wo sie auch vor 30 Jahren zu finden war. Das Patriarchat erhält sich auch durch das Schweigen, Akzeptieren, Nichtdurchschauen, Hoffen, Aushalten, das Mitmachen der Frauen. Dass Frauen sich nicht ermächtigen, diese Lawinen zu erkennen, geschweige denn kollektiv dagegen anzugehen – das kann man nicht in ein paar Jahrzehnten lösen.

Im öffentlichen Diskurs dagegen heißt es, wir haben doch schon viel erreicht. Frauen sind aufgestiegen …

Ja, das ist wunderbar. Aber es geht nicht nur um Aufstieg und um die Verhältnisse hier. Es geht um eine patriarchale Logik, die weltweit herrscht, um grassierende Gewalt und mangelnde Sorge – und nicht lediglich darum, ob wir eine Bundeskanzlerin haben.

Nur eine Bundeskanzlerin, also Gleichheit zu wollen, ist falsch, Differenz auch, was ist das Dritte?

Man muss über Vielfalt nachdenken. Es gibt nicht nur die Geschlechterdifferenz. Es gibt noch andere Herrschaftsformen, an denen wir mitbeteiligt sind. Vor allem den Rassismus. Das haben uns schwarze Feministinnen beibringen müssen. Leider setzen viele junge Frauen den Feminismus mit Alice Schwarzer gleich. Ihr Monopolanspruch war immer schon ärgerlich.

Sie meinen etwa ihre Darstellung von Musliminnen als Opfer?

Natürlich gibt es unter Musliminnen Opfer. Aber nicht alle sind oder verstehen sich als Opfer. Das sind schreckliche Verallgemeinerungen.

Jetzt entdecken junge Feministinnen den Sexismus neu, er wird im Internet angeprangert. Freut Sie das?

Ach, wissen Sie, ich bin nun bald achtzig. Und ich sehe, dass junge Frauen nicht nur Früheres fortsetzen, sondern selber neu anfangen wollen. Die Situation ist nicht so anders als vor 30 Jahren. Aber wir haben damals sehr viel weiter gedacht: Feminismus war eine Kritik an Grundfesten der Gesellschaft, an der Weltentwicklung überhaupt. An Zerstörung, Krieg, Zurichtungen von Menschen und Natur durch Gewalt, die bis in den Habitus, die Psychen der einzelnen Menschen und ihre Sozialcharaktere hineinwirkt. Das ist mehr als ein Beziehungsproblem zwischen Männern und Frauen.

Heute fordern die Feministinnen Solidarität von den Männern ein. Ist das eine Illusion?

Nein, das wird höchste Zeit. Wir haben damals gedacht, dass die Männer das gar nicht können. Das Misstrauen war groß und betraf erst mal alle Männer. Eine derartige Generalisierung geht natürlich gar nicht. Aber man muss schon verlangen, dass Männer sich mit ihrer historischen Gewalt und ihren schrecklichen Sackgassen auseinandersetzen und nicht nur eine feministische Freundin haben, die sie ab und zu piesackt.

Aber wenn Männer nun ihre weibliche Seite entdecken, gefällt Ihnen das auch wieder nicht.

Nein. Was heißt denn weiblich? Männlich, weiblich, das sind doch Geschlechtskrankheiten, reduzierte Formen des Menschseins, ein eingeschränktes Verhältnis zur Welt und den eigenen Möglichkeiten. Es geht um eine Ausweitung des verengten Geschlechterhorizonts. Wir reden doch von der Welt. Von Kriegen. Was sind das für Kriege? Das sind Männerkriege. Das sagt aber heute kein Mensch. Es ist ein großer politischer Verlust, wenn der Feminismus nur noch verstanden wird als „Ich und mein Freund“. Da ist etwas verloren gegangen. Ich hoffe, wir finden es eines Tages wieder.