Speakers’ Corner an der Spree

PARTIZIPATION Hoch über der Spree wagt das Radialsystem V ein soziopolitisches Experiment: Bis zur Senatswahl stellt es seinen Spielort Berliner „Meisterbürgern“ als „Agora“ zur Verfügung und gibt dabei die Bühne frei für – was auch immer

Am Ende starrt Wowereit betreten zu Boden. So viele unbeantwortbare Fragen: „Warum gibt es in Berlin kein Kinderparlament?“ „Und warum gibt Berlin so viel Geld für noch eine Autobahn und noch ein Schloss aus – wir haben doch nicht mal vernünftige Straßen ohne Schlaglöcher?“ Ivi und Sophia reden sich in Rage; Mila alias „Klaudia Wowereit“ rutscht verlegen auf ihrem Stuhl hin und her: „Ich kann mich nicht um alles kümmern!“

Keine leichte Rolle, die des Berliner Bürgermeisters. Aber Mila hat sie selbst gewählt: Zusammen mit Schülern der Evangelischen Schule Berlin Zentrum und der Grundschule an der Marie hat die 11-Jährige am Montag ein selbst für Berlin ungewöhnliches Experiment eröffnet: die „Berlin Agora“ im Radialsystem V. Bis zu den Bürgermeisterwahlen am 18. September sollen dort „Meisterbürger“ ihre Projekte und Visionen zur Zukunft Berlins der Öffentlichkeit vorstellen.

„Alle sind willkommen, hier ein paar Stunden zu gestalten und eine Diskussion anzustoßen: Privatpersonen und Initiativen aus allen Stadtteilen, Altersgruppen und soziopolitische Zusammenhänge“, betont Projektmanagerin und Moderatorin Tina Gadow. Es gibt weder Kuratoren noch Zensur – die Bühne gehört den Bürgern. Speakers’ Corner an der Spree. In einer Stadt ohne öffentliche Agora herrsche Recht- und Gesetzlosigkeit, hat Homer einmal für die griechische Polis beobachtet. Der Grundgedanke des Radialsystems ist der gleiche: „Die Agora der ‚Meisterbürger‘ will der Politikverdrossenheit der ‚Wutbürger‘ ein konstruktives Forum entgegenhalten“, erklärt Gadow. „Wir bündeln existierende Initiativen und neue Debatten, vernetzen engagierte Bürger und sammeln die besten Vorschläge für eine neue Stadtagenda.“

„Was würdet ihr tun, wenn ihr drüben im Roten Rathaus sitzen würdet?“ Mit ihrer Frage sticht Lehrerin Sabine Weiche in ein Wespennest. Minuten später feilen die Kinder in Gruppen an ihren Ideen und ihrer Präsentation. Die Erwachsenen schauen vom Rand aus zu – sie werden nicht mehr gebraucht. Neben der Talkshow, in der Mila sich als „Bürgermeisterin Klaudia Wowereit“ den Fragen der Kinder stellt, hocken Lennart, Giacomo und Anselm vor einem immer und immer wieder durchgestrichen Plakat. Für sie zählt nur das gesprochene – oder vielmehr gerappte – Wort: „Täglich grüßt der Schulstress, dazu hab ich keine Lust, lieber aufstehen und regieren oder mit der Welt diskutieren.“ Ein sommersprossiger Junge lacht: „Es müsste mehr solcher Orte geben. Wenn die schönsten Plätze immer nur einem Christian Wulff gehören, hat ja nur einer was davon.“

Robert heißt der elfjährige Pfiffikus. Wie so viele hier spricht er mit der verblüffenden Souveränität eines Erwachsenen über seine Vorschläge – einen Kindersenat und die Wahl ab zwölf –, ohne dabei altklug oder eingebildet zu wirken. Auch den Wahlprozess würde Robert reformieren: Ein Kreuz alle paar Jahre macht noch keine Demokratie, findet er. So könnten die Wähler zwar hin und wieder die Richtung beeinflussen, aber nicht die entscheidenden Details: „Die Wähler sind für den Atomausstieg – okay. Dann hören die Politiker eben darauf und steigen aus – aber erst in ein paar Jahrzehnten, Pech gehabt!“ Eine „halbe Aristokratie“ sei das, sagt er beiläufig und ein bisschen gelangweilt, als habe er gerade etwas sehr Banales gesagt: Äpfel sind rund. Die bundesdeutsche Demokratie hat partizipatorische Defizite. Weiß doch jedes Kind.

CHRISTINA FELSCHEN

■ Nächste Termine: 24. Juni um 18 Uhr: Zukunft Freie Kultur (Gastgeber: Radialsystem V), 22. August um 18.30 Uhr: Stadtentwicklungspolitik am Beispiel der Köpenicker Straße (Stiftung Zukunft Berlins), 25. August um 18 Uhr: Change your Perspective (Dawit Shanko / Listros e. V.), jeweils im Radialsystem V. ; siehe auch www.berlin-agora.de