Krieg den Hütten

Die ersten Barackensiedlungen in Portugal entstanden Anfang der 60er Jahre, während der Salazar-Diktatur. Arbeitsuchende kamen vom Land in die Metropolen Lissabon und Porto und bauten an den Stadträndern ihre provisorischen Hütten. Nach der Revolution 1974 folgten ihnen Einwanderer aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien. Seit 1993 setzt sich die Regierung mit dem Programa Especial de Realojamento (PER) für eine Umsiedlung der Bewohner in Sozialwohnungen ein. Bei der letzten Zählung 2001 lebten in Portugal noch gut 80.000 Menschen in Baracken oder notdürftigen Häusern. Jeder vierte Slum-Bewohner lebt ohne Wasser, jeder sechste ohne Strom. Die Lissaboner Immigrantenorganisation Solidaridade Imigrante und das Bündnis „plataforma artigo 65“ setzen sich für diese Mitbürger ein. KAT

AUS LISSABON KATRIN ZEUG

Braima Dansós kleine Augen zucken, hin und her. Manchmal passiert es dem 48-Jährigen auch, dass er plötzlich anfängt, mit sich selbst zu sprechen. Das ist diese blöde Nervosität, sagt er, weil sein Kopf doch so viel arbeitet. Denn Dansó hat Sorgen.

Als der Bescheid von der Stadt kam, dass sein Haus in den nächsten Tagen abgerissen werde, war Dansó gar nicht zu Hause. Er war in Südportugal und arbeitete auf einer Baustelle. Sein Haus – Nummer 18, Straße 1 im Viertel Azinhaga dos Besouros, ungefähr zwanzig Minuten mit der Bahn vom Lissabonner Stadtzentrum entfernt – war hellblau angestrichen, im Hinterhof stand eine kleine Palme. Die Ausstattung war ganz schlicht: eine Kochnische, ein Bett und ein Sofa für Gäste. Sechzehn Jahre hat er dort gelebt, seit er aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie Guiné-Bissau als Gastarbeiter nach Portugal gekommen ist.

Als er dieses Mal von der Montage heim nach Lissabon kam, gab es das Haus nicht mehr. Das ganze Viertel war ein Schuttberg, Braima Dansó und alle seine Nachbarn waren auf einen Schlag obdachlos. Allein im Großraum Lissabon gibt es mehr als 35 Barackenviertel, in denen weit über 20.000 Menschen leben. Es sind bunte und staubige Viertel, über die regelmäßig in den Nachrichten berichtet wird. Da geht es dann um Drogenhandel, um Waffen und Gewalt. Die Bewohner dieser Viertel sind meist Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Afrika, die gekommen sind, als sich Portugal nach der Revolution 1974 öffnete und es hier viel Arbeit gab. Die Zuwanderer bauten sich an den Rändern der Großstädte ihre eigenen Siedlungen – ohne Baugenehmigungen, Hütte an Hütte, immer da, wo ein Stückchen Land frei war.

An dem provisorischen Zustand hat sich bis heute nicht viel geändert. Telefonkabel schwingen sich über die Straßen, Fernsehantennen ragen von den schiefen Dächern, einige Hütten bestehen aus nur einem Zimmer, andere haben drei Stockwerke. Musik scheppert aus billigen Boxen und vor den Türen stehen kleine Grillroste. Hier trifft man sich, es gibt Hähnchenschenkel und Bier aus der Dose.

Auch Dansós Viertel hat so funktioniert. „Wir haben ganz normal Steuern und Abwasser gezahlt“, erzählt er, „mein Nachbar hat sogar sechs Jahre Grundsteuer gezahlt.“ Genützt hat dieses Wohlverhalten ihm und den anderen nichts, ihre Hütten sind nur noch ein Haufen Schutt. Weil alles seine Ordnung haben muss.

Im Jahr 1993 entwarf die portugiesische Regierung ein landesweites Umsiedlungsprogramm, das Programa Especial de Realojamento (PER). Es sah vor, bis spätestens 2009 genug Sozialwohnungen bereitzustellen, um die Menschen aus den Slums zu holen. Man schickte Beamte zu den Baracken, die die bedürftigen Familien zählen und registrieren sollten, dann begann man an den Rändern der Städte preiswerte Häuserblocks mit Sozialwohnungen hochzuziehen. Das Viertel Casal da Boba zum Beispiel, extra für junge Paare und Gemeindemitarbeiter. Oder das Bairro do Zambujal, das für Alte und Alleinerziehende gebaut wurde.

Als die Beamten zu Braima Dansós Haus kamen, um ihn für eine Sozialwohnung zu registrieren, war er gerade arbeiten. Sie registrierten statt seiner einen Bekannten, den er für ein paar Tage auf seinem Sofa aufgenommen hatte. So kam es, dass Dansó nie in einer offiziellen Statistik auftauchte. Auch Sylvia Almeida von der Lissaboner Immigrantenorganisation Associação Solidaridade Imigrante (Solim) kritisiert: „Die Registrierung damals war absolut unprofessionell. Die Beamten kamen tagsüber, sie registrierten, wen sie gerade antrafen, und waren froh, wenn sie wieder aus dem Viertel raus waren.“ Damals erfassten die Volkszähler 45.000 Familien – aber nicht, wie viele Personen das sind. Nach Abschluss der Zählung, Mitte der Neunziger, wurden die Listen geschlossen. Die damals übergangenen oder seitdem zugezogenen Bewohner, neugegründete Familien oder Neugeborene zählen also nicht mehr. Insgesamt, schätzt die Solim, betrifft das mehr als 10.000 Menschen.

Als die Bulldozer nach Azinhaga dos Besouros kamen, verschanzten sich die Bewohner und ein paar Solim-Aktivisten in ihren Häusern. „Hier leben Menschen!“, riefen sie. Doch für Polizeikommandant Pinheiro dos Santos, der die Aktion leitete, gab es keine Diskussion: „Die vom Umsiedlungsprogramm ausgeschlossenen Familien, basierend auf der Registrierung von 1993, erfüllen nicht die legalen Voraussetzungen für ein Recht auf eine Sozialwohnung“, formulierte er umständlich. Dann wurden die Demonstranten hinausgetragen, zwei von ihnen festgenommen und die Häuser abgerissen. Der Bürgermeister Joaquim Raposo und die für den Wohnungsbau zuständige Stadträtin Carla Tavares sind seitdem für die Betroffenen nicht zu sprechen. Zu Journalisten sagen sie, dass sie sich um Lösungen kümmern werden – und dass man sich vor Sozialbetrügern schützen müsse.

Braima Dansó steht auf einem Schuttberg: Die kleine Palme lugt aus hellblauen Steinbrocken heraus, ein zerrissenes Kordsofa, ein Stück Matratze liegen da. Jeden Tag kommt er hierher, trifft alte Nachbarn, besucht seine zwei Katzen.

Die Gemeinde hat ihm und den anderen Betroffenen versprochen, drei Monatsmieten zu übernehmen, falls sie eine Wohnung finden sollten. Ein relativ risikoloses Angebot, da sich die Vermieter ungern auf ein solches Geschäft einlassen, erst recht nicht mit Afrikanern. Wenn doch, dann gibt es erfahrungsgemäß viel Bürokratie auf der Seite der Behörden und hilflose Ungeschicklichkeit bei den Bedürftigen. Organisatorische Unterstützung fehlt.

Über Dansós Schuttberg geht die Sonne unter. In der Ferne sieht man ein paar neue Sozialbauten und ein paar, an denen noch gebaut wird. Die Fertigstellung zieht sich hin, man konzentriert sich auf Prestigeträchtigeres wie beispielsweise die neue Autobahn, die auf dem geräumten Gebiet entstehen soll. Sie wird die Stadt mit einem neuen Einkaufszentrum verbinden. Braima Dansó hat davon gehört, die Mall soll „Dolce Vita“ heißen, das süße Leben. Aber er hat ganz andere Probleme. Er weiß noch nicht genau, wo er heute schlafen wird und sagt, dass er gehen müsse, er müsse nach Hause. Dann lächelt er wieder so, als wolle er sich für eine schlechte Angewohnheit entschuldigen: „Nicht nach Hause natürlich, zu irgendwelchen Freunden vielleicht.“