Vom Lebendigen her denken

INTERNET Im Netz verschmelzen Technik und Natur, meint Christian Schwägerl bei einer Lesung in der Heinrich-Böll-Stiftung

Mit dem Internet war lange das Versprechen verknüpft, mehr Partizipation zu ermöglichen und althergebrachte Hierarchien aufzubrechen. Doch seit Snowdens Enthüllungen müsse man sich fragen, ob das Internet – ein ursprünglich militärisches Projekt – womöglich nie ein ziviles Projekt werden könne, meint Christian Schwägerl. Dabei wirke das Internet längst auf die „reale“ Welt zurück: wie sich Menschen an überwachten Orten bewegten; wie sich unser Sozialleben durch „soziale“ Netzwerke verändere; wie algorithmische Berechnungen unser Konsumverhalten beeinflussten.

Die Grenzen zwischen „Leben“ und „Technik“ verschwimmen immer mehr, glaubt der Biologe und Wissenschaftsjournalist. „Die analoge Revolution. Wenn Technik lebendig wird und Natur mit dem Internet verschmilzt“ heißt Schwägerls aktuelles Buch. Am Montagabend lud die Heinrich-Böll-Stiftung im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe „Was Du nicht siehst. Konkrete Utopien“ zu einer Lesung mit dem Autor.

Schwägerl arbeitet in seinem Buch mit Szenarien, in denen Technik das Gesicht der Welt eines Tages radikal verändern könnte. Mal dystopisch, überwiegend aber utopisch. In einem seiner dystopischen Szenarien zeichnet er etwa das Bild einer Welt, die einer „digitalen Diktatur“ unterworfen ist: Die US-amerikanische Regierung beschließt nach einer Serie von Terroranschlägen, dass Google, Amazon, Facebook und Yahoo fusioniert werden müssen. Die von diesen Konzernen gesammelte riesige Datenmenge ist somit einer politischen Macht unterworfen. Von nun werden alle Menschen gezwungen, Google-Brillen zu tragen; wer dem System weitere Daten vorenthalten will, wird verdächtigt. Wo heute noch Produkte bewertet werden, werden in diesem Szenario Menschen bewertet – nach Systemkonformität. Abweichler sind von nun an verdächtig. In diesem Szenario wird die analoge Welt gänzlich vom Digitalen her bestimmt.

Stattdessen müsse man Mensch, Natur und Technik neu denken, fordert Schwägerl – aber wie? Schon bei der spannenden Frage, wie das Wissen der Welt den Menschen dienen könnte, ging der Faden der Utopie schnell wieder verloren. Teils wurde die Grenze zum Klischee überschritten, teils wurden Forderungen aufgestellt, statt konkret einzelne Probleme zu analysieren: Die Welt dürfe nicht zur Begleiterscheinung der Werbung und zum bloßen Gegenstand der Verwertbarkeit durch Unternehmen wie Amazon, Google oder Facebook werden.

Technik müsse zum Nutzen für das Leben und die Natur eingesetzt werden. Ein neues „Lebensnetz“ zwischen Mensch, Natur und Technik müsse entstehen. Man müsse Alternativen zur „digitalen Diktatur“ der Geheimdienste und Großkonzerne aufzeigen. Die Möglichkeiten digitaler Techniken sollten vom Analogen, vom Lebendigen her gedacht und gestaltet werden.

Wie diese Utopie aber aussehen könnte, konnte der Autor im Rahmen dieses Abends nicht entfalten. Sein ernüchterndes Fazit lautete: „Die Frage nach der Natur des Internets bleibt brutal offen.“ BARAN KORKMAZ