Nicht scheinheilig genug

Weltbankchef Paul Wolfowitz musste zurücktreten, weil er nicht begriffen hat, worauf eine große Organisation besonders angewiesen ist: auf gut gemachte Heuchelei

Die Weltbank soll Korruption bekämpfen – aber ohne Korruption kämen viele Projekte nicht zustande

Noch nie ist ein Präsident der Weltbank so erbarmungslos demontiert worden wie Paul Wolfowitz. Aber warum ist er gescheitert? Lag es wirklich nur daran, dass er seiner Geliebten und Weltbankangestellten Shaha Riza gegen alle Bank-internen Regeln eine Gehaltserhöhung von jährlich 60.000 Dollar und zwei Beförderungen zugeschanzt hat? Oder dass Widerstandsnester in der Weltbank auf einen Fehler des ehemaligen stellvertretenden US-Verteidigungsministers gelauert haben? Letztlich ist Wolfowitz gestolpert, weil er nicht begriffen hat, worauf eine Organisation wie die Weltbank angewiesen ist: auf gut gemachte Heuchelei.

Dieses Argument mag überraschen, weil in unserer westlichen Moral Scheinheiligkeit als eine Verfehlung gilt. Organisationen müssten, so lautete lange die gängige Vorstellung, darauf achten, dass ihre Visionen und Leitbilder eng mit ihren konkreten Entscheidungen zusammenhängen.

Erst der schwedische Ökonom Nils Brunsson hat zeigen können, dass Organisationen wie die Weltbank, die Europäische Union oder die Arbeitsagentur vor allem auf Scheinheiligkeit angewiesen sind. Organisationen würden viel zu starr werden, wenn sie alles in die Praxis umsetzten, was sie öffentlich verkünden. Erst eine mit Heuchelei geglättete Außendarstellung verschafft politischen Staatenbündnissen, Arbeitsämtern oder Entwicklungsbanken die nötigen Freiräume, um möglichst flexibel auf Anforderungen reagieren zu können.

Letztlich ist, so die provokante Überlegung von Brunsson, jede Organisation auf Scheinheiligkeit angewiesen. Das Entwicklungshilfeministerium genauso wie die Oppositionsparteien, die Pharma-Unternehmen ebenso wie globalisierungskritische Initiativen. Aber die Bedeutung der Scheinheiligkeit variiert und hängt davon ab, wie unterschiedlich die beteiligten Interessengruppen sind und wie stark einen Organisation auf öffentliche Legitimität angewiesen ist.

Kaum eine Organisation muss so viele unterschiedliche, häufig konkurrierende Interessengruppen bedienen wie die Weltbank: die Industriestaaten, die die Stimmenmehrheit in der Bank haben; die Entwicklungsländer als Nutznießer der Kredite; die Nichtregierungsorganisationen, die kritisch jede Veränderung der Bank beäugen; und nicht zuletzt die Finanzmärkte, über die sich die Weltbank refinanziert.

Daraus resultieren sehr widersprüchliche Anforderungen: Die Bank muss glaubhaft versichern, dass sie die Armut in der Welt abschaffen will – und damit letztlich auch sich selbst. Gleichzeitig steht sie aber unter dem Druck, ihr Kreditvolumen immer weiter zu erhöhen und damit zu wachsen. Wie andere Entwicklungsbanken kann auch sie sich nicht dem Trend entziehen, dass kleinere, an die lokalen Gegebenheiten angepasste Projekte gefordert werden. Die begrenzte Anzahl von Projektmanagern verlangt jedoch, dass die Projekte immer größer werden, um möglichst viel Kreditvolumen mit möglichst wenig Mitarbeitern vergeben zu können. Einerseits müssen Projekte sorgfältig geprüft werden, andererseits führt der Zwang zum Mittelabfluss dazu, dass Projekte genehmigt werden, die nicht einmal den formulierten Standards der Bank entsprechen. Die Weltbank muss überzeugend präsentieren, dass sie es mit der Korruptionsbekämpfung ernst nimmt – doch ist vermutlich den meisten erfahrenen Managern der Weltbank bewusst, dass sich in vielen Ländern Projekte nur durchsetzen lassen, wenn auf eher unkonventionelle Methoden zurückgegriffen wird.

Heuchelei ist der Schutz, um diese widersprüchlichen Anforderungen flexibel abarbeiten zu können. Die Weltbank hat dies seit der Amtsperiode des Weltbankpräsidenten Robert McNamara in den Siebzigerjahren mühsam lernen müssen. Auf die ökologisch teilweise desaströsen Effekte ihrer Projekte reagierte die Weltbank mit der Erfindung von Umwelt-Audits. Als über „weiße Elefanten“ berichtet wurde – also über Fabriken, Elektrizitätswerke oder Staudämme, die durch Entwicklungshilfe finanziert, aber schon nach wenigen Jahren wieder stillgelegt wurden –, da richtete die Weltbank eigene Abteilungen ein, die den Erfolg und Misserfolg von Projekten evaluieren sollten.

Je offensichtlicher wurde, dass die Weltbank Schwierigkeiten hatte, ihre selbst proklamierten Ziele zu erreichen, desto stärker war sie letztlich auf Scheinheiligkeit angewiesen. Als etwa bekannt wurde, dass Entwicklungshilfegelder in Indonesien veruntreut wurden, gelobte die Weltbank prompt Besserung und produzierte Leitbilder, Ethik-Erklärungen und Antikorruptionsleitlinien. Als immer stärker gefragt wurde, was die Entwicklungshilfe der letzten 50 Jahre eigentlich gebracht hat, wenn doch der Anteil der armen Bevölkerung in großen Teilen der Erde zunimmt, da hat die Weltbank das Ziel der Armutsbekämpfung in immer neuen Visionen bekräftigt.

Organisationen würden zu starr, wenn sie alles umsetzten, was sie nach außen verkünden

An der Praxis der Weltbank hat sich – gerade wegen der erfolgreichen Außendarstellung – in den letzten Jahrzehnten auffallend wenig geändert. Immer noch sind die durch Kredite finanzierten Großprojekte das Mittel der Wahl, die nicht selten äußerst problematische Auswirkungen in den Entwicklungsländern haben. Es ist paradox: Je mehr sich die Weltbank im letzten Jahrzehnt als „lernende Organisation“ und als „Wissensbank“ präsentiert hat, desto stabiler sind ihre Produkte und Prozesse geworden.

Es sagt viel über die Weltbank aus, dass Wolfowitz nicht an dieser Praxis in den Entwicklungsländern gescheitert ist, sondern an einer misslungenen Außendarstellung. Kurz: Wolfowitz hat es nicht geschafft, die Weltbank in den zwei Jahren seiner Amtszeit ausreichend aufzuhübschen. Seine Vorgänger haben das Image der Weltbank durch Themen wie Armutsbekämpfung, Umweltschutz oder Dialog mit Nichtregierungsorganisationen retten und auch gegen vehemente Kritik verteidigen können. Bei Wolfowitz hingegen war Korruption das einzige Thema, mit dem er sichtbar versucht hat, die Weltbank neu zu positionieren. Und ausgerechnet hier ist Wolfowitz ein gravierender Fehler unterlaufen, als er parallel zur Agenda der Korruptionsbekämpfung seiner Lebensgefährtin die Gehaltserhöhung zuschanzte. Wolfowitz’ Problem war also nicht, dass es eine Diskrepanz zwischen Außendarstellung und konkreten Handlungen bei der Weltbank gibt, sondern dass durch die Gehaltsaffäre deutlich geworden ist, wie unprofessionell geheuchelt wurde.

Für die Weltbank ist die Entlassung ihres Präsidenten eine fast einmalige Chance, ihre Fassade wieder zu renovieren – schließlich ist das massenmedial begleitete Auswechseln einer Top-Führungskraft eine viel effizientere Methode der Imagepflege als ein neues Antikorruptionsleitbild oder eine organisationsinterne Ethikrichtlinie. Es gehört zu den wirksamsten Formen organisierter Heuchelei, durch die öffentliche Demontage einer Führungskraft bußfertig Besserung zu geloben. STEFAN KÜHL