Im Zwischenraum, in der Zwischenzeit

Hört das denn nie auf mit Marie? Jean-Philippe Toussaint will seinen Supererfolg fortsetzen – der Roman „Fliehen“

Sein Erzähler hat jetzt Gefühle, in langen Sätzen fließen viele salzige Tränen erst auf Lippen und dann ins Meer

Es ist nicht unraffiniert, wie Jean-Philippe Toussaint mit der Zeitlichkeit spielt, in seinem neuen Roman „Fliehen“, dem zweiten nach der großen Wende in seinem Schreiben. Schon indem dieses Buch bei gleichem Hauptpersonal vor dem vorangegangenen spielt, dem Supererfolg „Sich lieben“. Darin ging es um eine Trennung, um das zelebrierte Abschiednehmen. Wenn „Fliehen“ sich also vom zweiten Satz an im Sommer vor der Trennung des Erzählers von Marie situiert, dann wirft das über alles einen schönen Schleier der Vergeblichkeit. Schön rätselhaft deshalb der erste, einzig aktuelle Satz: „Hört das denn nie auf mit Marie?“ Was hört nie auf, die Liebe, das Erzählen von der Liebe, die Liebe beim Erzählen vom Ende der Liebe?

Das Zeit-Raum-Gefüge ist überhaupt ganz auf Transit angelegt, der Erzähler passiert Zwischenräume und Zwischenzeiten. Oft schwindelerregend schnell braust er im Zug oder auf dem Motorrad dahin und immer durch exotische Nacht.

Was geschieht? Er ist wieder in Fernost, diesmal in China und ohne Marie, aber quasi in ihrem Auftrag. In Schanghai übergibt er dem Chinesen Zhang Xiangzhi, der für Marie vermutlich krumme Immobiliengeschäfte macht, 25.000 Dollar in bar. Welcher Art genau die krummen Geschäfte sind, interessiert ihn nicht, der Erzähler ist eine passive Figur und lässt sich, obzwar dauerverwirrt, durch die Ereignisse treiben, ohne sie zu verstehen. Es gibt dann noch die Chinesin Li Qi, mit der sehr schnell „etwas Zärtliches im Entstehen war“. Er begleitet sie im Nachtzug nach Peking; merkwürdigerweise ist auch Zhang Xiangzhi mit von der Partie. Trotzdem kommt es mit Li Qi auf der Zugtoilette fast zum Äußersten, als das Handy klingelt – am anderen Ende Marie. Ihr Vater ist gestorben. Bevor der Held und Erzähler aber wieder in Flugzeugen Räume und Zeitzonen durchquert, um dann, rechtzeitig auf Elba angekommen, zunächst vor der Beerdigung zu fliehen, kommt es in Peking noch zu einer Bowlingpartie und zu einer nächtlichen Flucht auf dem Motorrad im Zuge der krummen Geschäfte. Siehe Titel.

Die Wende in Toussaints Schreiben war die Abkehr von einer Reihe erfolgreicher absurder Kurzromane wie „Das Badezimmer“ (1985) oder „Der Fotoapparat“ (1986) – dem „Nouveau Nouveau Roman“ zugerechnet, das heißt weiterhin formal orientiert, ohne Figurenpsychologie, aber spielerischer als der Nouveau Roman. Toussaint hatte diese Wende angekündigt. Er hätte immer weiter so schreiben können wie bisher, aber es hätte ihn gelangweilt. Er wollte offen bleiben und hat einen neuen Ton angeschlagen.

Von der dunkel-melancholischen, neblig-exotischen Atmosphäre, die er jetzt erzeugt, bleibt allerdings ein etwas klebriger Nachgeschmack. Es ist einem nicht ganz wohl bei solchen Sätzen: „Ich betrachtete [?] nachdenklich die schwarze, gewellte Oberfläche des Flusses in der Dunkelheit und hing in meinen Gedanken an Marie nach [sic!], mit jener träumerischen Melancholie, die entsteht, wenn der Gedanke an die Liebe sich mit dem Schauspiel schwarzer Gewässer in der Nacht verbindet.“ Ein Autor, der einmal absurde Kurzromane geschrieben hat, ist zunächst kitschunverdächtig – sehr ungemütlich, ihn dann doch dabei zu erwischen.

Toussaint schwebte wohl jene fiebrige Romantik fremder nächtlicher Großstädte vor (und die aufregende Verlorenheit des Ausländers darin), wie sie in manchen Filmen zu sehen war, zum Beispiel in „Lost in Translation“. Doch stehen ihm fürs ernsthaft Atmosphärische lange nicht dieselben Mittel zur Verfügung wie vormals für die Komik. Wenn „Sommer und Stadt, Hitze und Nacht zueinander finden“, dann reiht er Gerüche und Geräusche listengleich aneinander, um hastig sinnliche Eindrücke zu erzeugen. Er weist zu angestrengt auf seine Motive und Metaphern hin. Dass sein Erzähler jetzt Gefühle hat, macht den Text sentimental und pathetisch, besonders im dritten Teil, auf Elba, da in langen parataktischen Sätzen zu viele salzige Tränen erst auf Lippen und dann ins salzige Meer fließen.

Leider, leider ist die Leichtigkeit dahin, mit der Toussaint sein einstiges Register beherrschte. Er hat einmal so intelligente, beglückend frische Romane geschrieben, dass man ihn jetzt daran messen muss. Was er jetzt schreibt, ist nicht schlechter als vieles andere. Es ragt nur nicht mehr heraus. MAJA RETTIG

Jean-Philippe Toussaint: „Fliehen“. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2007, 169 Seiten, 19,80 Euro