Brauchen wir jetzt mehr Kohle
JA

STROM Durch den Ausstieg aus der Atomenergie muss Deutschland Wind- und Wasserkraft stark ausbauen – oder auf Kohle setzen

Die sonntazfrage wird vorab online gestellt.

Immer am Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

taz.de/sonntazstreit

Doro Zinke, 57, ist Vorsitzende des DGB im Bezirk Berlin-Brandenburg

Kohle im Sinne von fossilen, nicht erneuerbaren Brennstoffen, so wie auch Gas und Öl, brauchen wir als Brückentechnologie auf absehbare Zeit. Da die Vorräte endlich sind, können wir nicht „mehr“ brauchen – selbst wenn wir es wollten. Die Frage ist nicht, ob Kohle genutzt wird, sondern wie lange noch. Die Antwort hängt auch davon ab, wie schnell sich unsere Gesellschaft darauf verständigen kann, was nachhaltige Energieversorgung ist und was dafür getan werden muss. Dazu gehört auch die Frage nach Speicherung und Transport von Energie. Und jedes scheinbare Patentrezept hat Haken. Nur einige Beispiele: Offshore-Windparks beeinflussen das Leben in der See. Mit Biomasse werden Flächen belegt, die besser zur Produktion von Lebensmitteln genutzt werden sollten. Windräder und Überlandleitungen stören, Kabel unter der Erde sind teuer. Als Gewerkschafterin stelle ich natürlich auch die Frage nach der sozialen Nachhaltigkeit. Leider führen sich einige aufstrebende Unternehmer aus der Solarbranche wie Manchesterkapitalisten der ersten Stunde auf. Die traditionelle Energiewirtschaft hingegen zeichnet sich in Deutschland durch hohe soziale Standards aus. Dass unsere Kumpels nicht mit halbierten Löhnen als Märtyrer des Klimawechsels in die Geschichte eingehen wollen, ist naheliegend.

Barbara Lambrecht, 45, arbeitet als Energieanalystin bei der Commerzbank

Zumindest vorübergehend wird sich meines Erachtens unser Bedarf an Kohle erhöhen. Schließlich kam die Kernenergie im vergangenen Jahr noch für 22 Prozent der deutschen Stromerzeugung auf. Zwar wurde der Ausbau der regenerativen Energien in den letzten Jahren massiv vorangetrieben, und diese machen bereits 18 Prozent unserer Stromerzeugung aus. Aber das Tempo dürfte nicht schnell genug sein, bis 2022 den Verlust an Kernenergie gänzlich zu kompensieren. Wenn wir den Stromimport nicht massiv erhöhen wollen, sind wir auf ein Mehr aus den Kohle- und den Gaskraftwerken angewiesen. Damit die dadurch bedingten Treibhausgas-Emissionen nicht zu stark steigen, können wir alle einen Beitrag leisten. Wir müssen die Einsparpotenziale nutzen, damit der Stromverbrauch nicht wie prognostiziert weiter steigt, sondern sich auf dem aktuellen Niveau stabilisiert.

Saskia Ludwig, 43, ist Partei- und Fraktionschefin der CDU in Brandenburg

Die CDU-Fraktion Brandenburg ist für die weitere Nutzung der einheimischen und subventionsfreien Braunkohle. Diese ist aus unserer Sicht als Energieträger noch so lange notwendig, bis sie versorgungssicher und wirtschaftlich durch alternative Energieformen ersetzt werden kann. Die Braunkohle gehört in Brandenburg zum bestehenden Energiemix. Dies wird bis auf Weiteres auch so bleiben. Auch bei dem schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, der jetzt in Angriff genommen wird, wird der verbleibende Energiebedarf mittelfristig zu einem erheblichen Anteil aus Kohle erzeugt werden müssen. Die Nutzung der heimischen Kohle wird also auch weiterhin eine zentrale Säule für einen sicheren, für die Bürger bezahlbaren und umweltverträglichen Energiemix in unserem Land sein. Dabei kommt es darauf an, die Umweltverträglichkeit der Braunkohle zu erhöhen. In der aktuellen energiepolitischen Lage Deutschlands werden wir noch länger auf den heimischen fossilen Brennstoff Braunkohle angewiesen sein. Ob es einem passt oder nicht: Die Brandenburger Braunkohle wird eine größere Rolle bei der Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland spielen, zumal es sich um eine kostengünstige Energieform handelt.

NEIN

Katharina Reuter, 34, ist die Leiterin der Geschäftsstelle der klima-allianz deutschland Es darf jetzt keinen Atomausstieg auf Kosten des Klimaschutzes geben. Wir dürfen die Chance für eine wirkliche Energiewende nicht mit neuen Kohlekraftwerken verspielen. Denn Braunkohle ist der klimaschädlichste Energieträger und verursacht bei der Verbrennung einen etwa dreimal so hohen CO2-Ausstoß wie Erdgas. Die jetzt geplanten Steinkohlekraftwerke würden mit einer Laufzeit von 40 bis 60 Jahren den klimaschädlichen CO2-Ausstoß zementieren und die Erreichung der Klimaziele unmöglich machen. In Ergänzung zu erneuerbaren Energien dürfen daher nur noch hocheffiziente Gas- und Dampfkraftwerke in Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung neu gebaut werden. Die erneuerbaren Energien müssen jetzt die Vorfahrt bekommen – damit wird eine komplette Versorgung von Deutschland mit regenerativen Energien bis 2050 möglich. Dazu muss die Politik klare politische Rahmenbedingungen zum Beispiel für die Energiewirtschaft setzen und auch die richtigen Anreize für einen schnelleren Ausbau. Mit der Novelle des Gesetzes für den Vorrang erneuerbarer Energien dürfen nicht wieder die Energieriesen bevorteilt werden, auch dezentrale erneuerbare Stromerzeugungs- und Speicherungsprojekte sind wichtig, denn hier liegt die Zukunft. Atomausstieg und Abschied vom Klimakiller Kohle: Ja bitte.

Bärbel Höhn, 59, ist stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag

Energiepolitisch brauchen wir auch nach dem Abschalten der Pannen-AKWs keine neuen Kohlekraftwerke. Wenn wir die Erneuerbaren verstärkt ausbauen und Energie einsparen, ist die Energiewende machbar. Die EU hat sich Einsparungen von zwanzig Prozent bis 2020 vorgenommen – das muss auch in Deutschland möglich sein. Die Brücke sind neue Gaskraftwerke, die flexibel einsetzbar sind und ins Stromnetz der Zukunft passen. Auch der Klimaschutz spricht gegen die Kohle: Jedes moderne Steinkohlekraftwerk stößt dreimal so viel CO2 aus wie ein vergleichbares Gaskraftwerk. Braunkohlekraftwerke sind richtige Klimakiller, sie haben fast den dreifachen Ausstoß. Und auch wirtschaftlich rechnen sich neue Kohlekraftwerke nicht. Denn der Betrieb von Gaskraftwerken wird allein schon durch steigende Zertifikatspreise für CO2 im Emissionshandel immer wirtschaftlicher. Deshalb setzen wir auf Erneuerbare Energien, Effizienz und Gaskraftwerke. Das schafft neben den schon bestehenden 400.000 Jobs weitere hunderttausende Arbeitsplätze der Zukunft – und ist unsere Antwort für eine sichere und klimafreundliche Energieversorgung.

Camila Moreno, 38, brasilianische Klima-Aktivistin, arbeitet für die Böll-Stiftung

Die Ankündigung, dass Deutschland die Vorreiterrolle übernimmt und den Ausstieg aus der Atomenergie umsetzt, wurde von den Bewegungen, den Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt, mit großer Hoffnung und Bewunderung aufgenommen. Doch über den Herausforderungen dieses notwendigen und lange ersehnten Übergangs darf der Kampf um Klimagerechtigkeit nicht vergessen werden. Kohlekraftwerke sollten weder eine Option noch eine Alternative sein. Die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle oder Gas hat verheerende Auswirkungen für das gesamte globale Klima. Die Leidtragenden wären wieder die schwächsten Bevölkerungsgruppen des Südens, die historisch am wenigsten zu dem hohen CO2-Ausstoß beitragen. Ich begrüße die Entscheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie und hoffe, dass dies nicht nur zu einer neuen energiepolitischen Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland führt, sondern auch zu einer faireren und gerechteren Welt.