Sie waren nicht allein

HELFER Im aktuellen ARD-Radiofeature „Nazi-Netzwerk NSU“ hinterfragen und bezweifeln die Autoren Ralf Homann und Thies Marsen die Einzeltrio-Theorie zum Nationalsozialistischen Untergrund

„Wie viel Aufklärung bleibt auf der Strecke?“

Ralf Homann und Thies Marsen, Autoren des Radiofeatures

VON ANDREAS SPEIT

Wie fanden sie ihre Opfer? Wer machte ihre Anschlagsziele aus? Wie wurde die Bekenntnis-DVD verschickt? Im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München sind nach mehr als 150 Verhandlungstagen noch viele Fragen offen. Und nun kommen die Journalisten Ralf Homann und Thies Marsen und stellen noch eine Frage, auf die die Bundesanwaltschaft doch eigentlich schon längst eine Antwort parat hatte: Bildeten nur Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe diese Terrorgruppe?

Seitdem der Nationalsozialistische Untergrund am 4. November 2011 zufällig aufflog, geht die Bundesanwaltschaft davon aus, dass die drei allein 10 Morde, 2 Bombenanschläge und 14 Banküberfälle verübt hätten. Mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt habe sich die terroristische Vereinigung aufgelöst. In ihrem einstündigen ARD-Radiofeature bringen Homann und Marsen, Reporter des Bayrischen Rundfunks, die Einzeltrio-Theorie jedoch mehr als ins Wanken.

Viele Stimmen aus Deutschland und Großbritannien äußern sich in dem Feature zu möglichen Vernetzungen der Szene. „Dass einzelne Kontaktpersonen des Trios oder auch einzelne Unterstützer oder Helfer in solchen anderen rechtsextremistischen Netzwerken eingebunden waren, ist möglich“, sagt Bundesanwalt Herbert Diemer. Der Vertreter der Anklage im NSU-Prozess betont aber, „eine Vernetzung des NSU in andere rechtsextremistische Netzwerke oder Gruppierungen, sei es ‚Blood and Honour‘ oder andere, hat nicht stattgefunden.“

Einzelne Kontakte? Michael Weiß, Rechtsrock-Experte, erwidert: „Ohne ‚Blood and Honour‘ hätte es den NSU so nicht gegeben.“ In dieses transnationale Netzwerk, das Konzerte und Aktionen verantwortet, war das Trio fest eingebunden. Nach ihrem Abtauchen konnten sie auf diese Strukturen zurückgreifen. Sie besorgten Wohnungen, Papiere, Geld, Waffen und Sprengstoff. Das zeigen Homann und Marsen auf, auch indem sie Dialoge zwischen dem am Münchener Oberlandesgericht vorsitzenden Richter Manfred Götzl und Zeugen aus der rechtsextremen Szene wiedergeben.

Die Idee des Terrors war in dem transnationalen Netzwerk mehr als eine bloße Idee, sagt auch der britische Autor Nick Toczek. Die „Turner Tagebücher“ hätten in der Szene „Mein Kampf“ abgelöst. Den Roman, der eine Terroranleitung gegen Migranten ist, fanden Ermittler auf Rechnern der mitangeklagten NSU-Unterstützer André E. und Ralph Wohlleben. Die „Internationale der Nationalisten“ funktionierte auch bei der Waffenbeschaffung. „Kurze Wege, dichtes Netz“, analysieren Homann und Marsen die internationalen Verstrickungen rund um Blood and Honour.

Viele Stimmen gehen auch auf die Einschätzungen der Sicherheitsbehörden ein. Die Kritik: Damals wie heute würde die Bedeutung von Blood and Honour nicht wahrgenommen. Den „Zusammenhang zwischen Terrorismus und militanter Nazimusik“ hätten die Ermittler nicht erkennen wollen, sagen die Journalisten: Wäre die Analyse anders gewesen, wäre anders für die Anklage ermittelt worden. Angelika Lex, Vertreterin der Nebenklage, denkt, dann hätte „viel intensiver“ gegen „die ganzen rechtsradikalen Strukturen an den Tatorten“ ermittelt werden müssen: „Das ist auf jeden Fall nicht passiert.“

Im Feature erinnern Homann und Marsen auch an ein Dossier vom New Scotland Yard. Vier Monate nach dem Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße, bei der 22 Menschen teilweise schwer verletzt worden waren, lagen den Kölner Ermittlern die 70 Seiten vor. Der britische Staatsschutz war wegen der Verwendung einer Nagelbombe aufmerksam geworden. Denn 1999 hatten Rechtsextreme in London Nagelbomben gegen Migranten gezündet. Der Hinweis wurde zu den Akten gelegt. „Ist das Dummheit, Zynismus, Absicht?“, fragen Homann und Marsen. Die Einzeltrio-Theorie als „ermittlungstechnische Taktik“ und „prozessökonomische Optimierung“, um irgendwie mal irgendwo anzufangen, sei verständlich: „Aber wie viel Aufklärung bleibt dabei auf der Strecke?“.

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