Mehr als ein Stück Papier

Die Warteliste für Organtransplantationen entscheidet über Leben und Tod. Seit dem Essener Skandal um angeblich verkaufte Operationen steht die Unbestechlichkeit dieses Papiers in Frage

Zu wenige Menschen wissen, wie“

VON KLAUS JANSEN
UND ANNIKA JOERES

Seinen Platz auf der Liste kannte Adolf Rethfeld nie. Aber jedes Mal, wenn ein Hubschrauber über seinen Münsteraner Garten hinweg flog, hoffte er auf den erlösenden Anruf. Hoffte darauf, dass jetzt sein Spenderherz in die Klinik geliefert würde. „Ich lag oft Stunden lang im Gras, die Ohren gespitzt, die Augen an den Himmel geheftet.“ Nach 18 Monaten Wartezeit hob der Hubschrauber für den jetzt 70-Jährigen ab. Er stand endlich auf Platz eins.

Wenn Adolf Rethfeld heute über die Liste spricht, klingt trotzdem Misstrauen durch. „Keiner weiß, wie sie aussieht, alles ist verschlüsselt.“ Nicht erst seit alle Welt darüber rätselt, wie es dazu kommen konnte, dass wohlhabenden Patienten im Essener Universitätsklinikum überraschend schnell Spenderorgane eingepflanzt wurden, steht die Neutralität der Warteliste für Organtransplantationen in Frage. Schlimm genug ist die Vorstellung, dass eine Aneinanderreihung von Namen über Leben und Tod entscheidet. Viel schlimmer noch, wenn niemand weiß, wie diese Aneinanderreihung zustande kommt.

„An und für sich funktioniert die Vergabe von Organen in Europa. Das Problem ist: Zu wenige Menschen wissen, wie“, sagt der Kölner Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach. Und das rächt sich spätestens jetzt, da mit dem Essener Chirurgen Christoph Broelsch Deutschlands wohl berühmtester Transplantationsmediziner im Verdacht steht, gegen die Zahlung von Spenden Patienten bevorzugt zu haben. „Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten, ist das ganze System diskreditiert. Dann müsste er härtestens bestraft werden“, sagt Lauterbach. „Amerikanische Verhältnisse“ befürchtet bereits die ehemalige Nierenpatientin Christel Oettgen. Die Frau aus Mülheim hat für ihre Operation nichts bezahlen müssen: „Jeder würde theoretisch alles für eine Operation hergeben. Aber am Ende tut man es meistens doch nicht“, sagt sie.

Für Adolf Rethfeld war das Leben vor der Operation eine Qual. Nur ein in seine Brust eingepflanzter Defibrilator rettete ihn mit Stromschocks, wenn der Herzmuskel immer wieder Sekunden lang stehen blieb. Wann und warum er irgendwann in die Kategorie „high urgent“ heraufgestuft wurde, hat ihm niemand so genau gesagt. „Es gab 15 Kriterien“, erinnert er sich. Auf die Blutgruppe des Spenderherz sei es angekommen.

Tatsächlich ist die Blutgruppe nur eines von vielen Kriterien, die darüber entscheiden, wer auf welchem Platz auf die Warteliste gesetzt wird. Immer entscheiden die Erfolgsaussichten, die Dringlichkeit, die Wartezeit und das Alter der Patienten mit. Bei Nieren und Bauchspeicheldrüsen ist auch die Gewebestruktur des Organs wichtig, bei Leber und Herzen auch die Größe oder das Gewicht des Spenders. Die deutsche Stiftung Organtransplantation in Neu-Isenburg, die das nationale Patientenverzeichnis führt, muss eine Fülle von Daten an die Organisation Eurotransplant weitergeben. In der niederländischen Universitätsstadt Leiden verwaltet die Stiftung 15.000 Organsuchende aus den Benelux-Ländern, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Slowenien.

Dass die Suche nach Spendern international organisiert ist, ist dem knappen Angebot geschuldet: Einem Land allein wäre es nahezu unmöglich, für jeden Empfänger einen passenden Spender zu suchen. Eurotransplant sorgt dafür, dass eine Niere mit der Blutgruppe Null aus Brüssel zu einem Dialyse-Patienten mit gleicher Blutgruppe nach Ljubljana geflogen werden kann. Eurotransplant muss Abwägungsentscheidungen treffen – in internationalem Ausmaß.

Leicht anwendbar sind die Kriterien der Organvergabe nicht. Adolf Rethfeld musste gleich zwei Mal umsonst ins Krankenhaus fahren. „Beim ersten Mal passte das Herz nicht zu mir, beim zweiten Mal war das Organ in einem schlechteren Zustand als mein eigenes“, sagt er.

Manchmal liegt es aber auch an den Patienten, dass eine Transplantation nicht stattfinden kann – weil der Kreislauf zu schwach oder die Blutwerte zu schlecht sind. Gerade dann wird es kompliziert. Ist beispielsweise eine Leber erst einmal vergeblich von einem Land ins andere geflogen worden, wird die ohnehin knapp vorhandene Zeit für einen Eingriff noch knapper. Wenn es die Klinik nicht schafft, innerhalb weniger Stunde einen Ersatzempfänger aufzutreiben, taugt das wertvolle Organ nur noch für den Seziertisch der Medizinstudenten. Das Problem: In einem solchen Fall entscheidet nicht mehr die Stiftung Eurotransplant darüber, wer das Organ bekommt, sondern die Mediziner vor Ort.

„An und für sich funktioniert die Vergabe von Organen in Europa. Das Problem ist:

Die Staatsanwaltschaft Essen vermutet, dass in diesem „beschleunigten Vermittlungsverfahren“ die Einfallstür für Korruption liegt. Wer kann medizinische Einwände geltend machen, wenn ein Chefarzt den auf Nummer eins der Liste platzierten Patienten für operationsunfähig erklärt und statt dessen jemand anderen aufschneidet?

„Ein letztes Stück Subjektivität liegt bei diesen Entscheidungen in der Natur der Sache, sagt Rudolf Henke. Der CDU-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des Marburger Bundes in Nordrhein-Westfalen sieht dennoch keine Alternative zum beschleunigten Verfahren. „Völlige Transparenz gibt es nur, wenn man alle beim ursprünglich geplanten Empfänger nicht einzusetzenden Organe entsorgt. Aber das kann ja auch niemand wollen“, sagt er. Auch Eurotransplant ist vorsichtig mit Äußerungen zum Fall Essen. Der medizinische Direktor Axel Rahmel verweist auf seine Machtlosigkeit im beschleunigten Verfahren, erklärt jedoch gleichzeitig, dass sich diese Regelung bewährt hat. „Viele Organe könnten ansonsten nicht transplantiert werden“, sagt Rahmel. In den vergangenen fünf Jahren seien etwa 20 Prozent aller Lebern nach einer Entscheidung der Klinikärzte vergeben worden. 800 Leben hätten so gerettet werden können.

Dass sich der Essener Skandal aufklären lässt, bezweifelt Adolf Rethfeld. „Die, die sich ein Spenderorgan erkauft haben, werden sich nicht melden“, glaubt er. Sie seien viel zu dankbar über ihre neue Gesundheit. Menschen, die auf eine Spende warten, seien in einem dauernden Stresszustand. Als er wartete, gab es noch keine Handys, Rethfeld durfte sich nicht weiter als 25 Kilometer von Münster entfernen, sonst hätte sein Pieper am Gürtel nicht funktioniert. „Bei jedem Geräusch bin ich hoch geschreckt“, erzählt er. Als bei seiner Schwiegermutter der Küchenherd piepte, sei er aufgeschreckt. „Ich habe x-mal die Klinik angerufen, natürlich vergeblich.“

Rethfeld hat den Ärzten immer vertraut. Noch heute, zehn Jahre nach der Operation, erzählt er, umarme er seinen Chirurgen, wenn er ihn zufällig in der Stadt trifft. „Ich bin ihnen für immer dankbar“, sagt Rethfeld. Auch er hat Geld gespendet – aber erst nach der gelungenen Operation. An die Kinderkardiologie, an Forschungsunternehmen. Nicht viel, sagt der früh verrentete Bürokaufmann. Nur als Anerkennung für sein neues Leben. Fragt man ihn, warum er seinen Ärzten vertraut habe, sagt er: „Sie sind immer freundlich gewesen.“