Was wollen wir wissen?

Bildung ist zu wichtig, als dass man sie den Bürgern überlassen sollte. Her mit dem „funke wisdom“, dem kreativen Konsum der Popkultur! Ein Plädoyer für alternative Modelle der Wissensvermittlung

Der Ausgangspunkt der Debatte sollte nicht das Normkind sein, sondern der verkrampfte Einzelne

VON MARK TERKESSIDIS

In den letzten Jahren ist die Institution Schule in Deutschland schwer unter Druck geraten. Ein ganzer Stapel Untersuchungen aus dem In- und Ausland zeigt, dass das hiesige Schulsystem schwerfällig, unzeitgemäß und diskriminierend ist. Zudem sind die Lehrer nicht mehr auf dem neuesten Stand – sowohl des aktuellen Weltwissens als auch der Vermittlungsformen –, was zum einen an deren chronischer Überlastung liegt, zum anderen aber auch an einer ebenso chronischen Resistenz gegenüber allem Neuen. Nun gehört die Reform der Schule zweifellos ganz nach oben auf die Agenda, aber dabei kann es sicher nicht nur darum gehen, dass die Schüler am Ende in standardisierten Vergleichstests besser abschneiden. Die Frage müsste auch lauten: Welche Formen von Wissen soll und kann die Schule überhaupt vermitteln? Und welche Vermittlungsarten wären diesen Wissensformen angemessen?

Nun gibt es zu solchen Fragen eine unüberschaubare Menge von meist sehr abstrakten pädagogischen Traktaten. Zeitgemäßer ist es, nach Anregungen in konkreten kulturellen Praxen zu suchen. Der US-amerikanische Rapper Kool Moe Dee hat im Jahre 1991 eine erstaunliche Entdeckung gemacht – es geht um „funke wisdom“. Kool Moe Dee war zuvor ein Vertreter des „Consciousness“-Rap, also ein Musiker mit sozialem Bewusstsein. In seinen Predigten forderte er „die Brüder“, seine Hauptadressaten, nachdrücklich dazu auf, sich „knowledge“ anzueignen – je mehr Bildung, desto mehr Möglichkeiten, das eigenen Leben zu verändern. 1991 jedoch hieß es plötzlich: „Knowledge ain’t enough, you need funke funke wisdom.“ Der Begriff ist nicht leicht zu übersetzen. Als „funky“ bezeichnete der Slang ursprünglich den Geruch, der beim Tanzen im Club entsteht. Dann wurde es der Name für eine Musikform. Es geht also um eine Art von schmutzig-erregter, organischer Weisheit.

Es geht also um alternative Wissensbestände und informelle Vermittlungszusammenhänge. Zweifellos gibt es eine Reihe von Lehrern, die sehr genau wissen, wie „funke wisdom“ funktioniert, aber die Institution Schule hat hierzulande solche Wissensformen meist disqualifiziert. Ein Lehrer soll eben „Stoff“ unterrichten – nicht etwas scheinbar Esoterisches wie organische Weisheit. Tatsächlich erwirbt man solche Weisheit auch zumeist nicht frontal-verbal, sondern indirekt-körperlich, oft sogar nonverbal. Jedenfalls ist die Grundlage das eigene Involviertsein in etwas. Man tut etwas, man ist beteiligt an der Erzeugung jenes Geruches, der dann die Grundlage für ein Geschmacksurteil bildet. Die Weisheit wäre also das organische Sensorium, das sich bildet, während man Geruch erzeugt und dabei lernt, wie man nach Geruch urteilt.

Selbstverständlich ist das weit entfernt von traditionellen Auffassungen, wo die Wissensvermittlung ein letztlich väterliches Subjekt voraussetzt, das den eingehegten Bereich eines „Faches“ verwaltet und im Besitz einer „objektiven“ Wahrheit ist, die es weitergibt. Solche Vorstellungen sind im deutschen Bildungssektor immer noch weit verbreitet. Das erklärt auch die Widerstände an den hiesigen Universitäten gegen so etwas wie „Cultural Studies“, denn dabei handelt es sich um eine Forschungsrichtung, die sich um die Grenzen von Disziplinen nicht schert und den Geruch des Trivialen nicht scheut. Und die ein Beteiligt-Sein an einem Thema voraussetzt.

Wenn hierzulande etwa eine Untersuchung über eine Fernsehserie entstehen soll, dann studiert der Forscher zunächst einen Stapel Schriften von Theodor W. Adorno, danach einen weiteren von Raymond Williams. Aus der Lektüre erarbeitet er eine Methode. Erst danach wählt er die Serie, um die es gehen soll, und schaut sie sich an. Das Interesse ist oft völlig abstrakt.

Eine Untersuchung im Sinne der Cultural Studies beschreitet den umgekehrten Weg. Die Forschung geht von der Erfahrung des Konsums aus. Von der Erfahrung, dass eine Serie einen so mitgerissen hat, dass man bis ins Morgengrauen immer weiter geschaut hat. Die Forschungsfrage ist dann eine andere. Es geht nicht darum, dass der Forscher wie ein Ethnologe einen fremden Volksstamm entdeckt, der Serien schaut, sondern darum, dass ich selbst es war. Warum habe ich das getan? Was ist interessant daran?

Tatsächlich kann man in aktuellen Serien auch etwas über Bildung erfahren. Mittlerweile zeigt jeder „Tatort“, dass Kommissare als traditionelle „Aufklärer“ nicht mehr funktionieren. Die Ermittler werden routinemäßig privat in das Geschehen hineingezogen. Fast alle US-Jugendserien der letzten Jahre von „Dawson’s Creek“ über „Buffy“ zu „O. C. California“ zeigen Personen, die Besonderheiten haben, außerhalb der Norm, und die mit ihrer Singularität zu leben versuchen. Der Ausgangspunkt aller Bemühungen um Bildung sollte also nicht das 50er-Jahre-Normkind sein, welches in der deutschen Schule immer noch erwartet wird. Am Anfang sollte nicht das Kind mit den „richtigen“ Voraussetzungen und dem perfekten Familienverbund stehen, sondern der verkrampfte Einzelne auf der Suche nach Haltung, die Gestalt mit den abseitigen Interessen, das Schmuddelkind mit der falschen Herkunft.

Wie haben diese Personen bisher gelernt? Zunächst haben sie gelernt, indem sie die Ausdrucksformen des eigenen Körpers ernst genommen haben. In den frühen feministischen Schriften in Deutschland ging es oftmals darum, leibliche Eindrücke aufzuwerten – als Mittel der Erkenntnis. Das Unwohlsein in einer Situation wurde nicht bloß als schiere individuelle Empfindlichkeit betrachtet, sondern als Indikator etwa für männliche Strategien der Abwertung. Ähnlich verhält es sich bei Minderheitsangehörigen, die mit subtilen Formen von Rassismus konfrontiert sind. Oft lässt sich nicht sofort analysieren, warum das Gegenüber sich ausgrenzend verhalten hat, doch der Körper reagiert sofort – mit Übelkeit, mit Aufregung, mit Wut.

Das Körperwissen lässt ein Erkenntnisinteresse entstehen, für das es kein formales Lernschema gibt. So entwickelt sich ein Autodidaktentum. Die Mittel solcher Selbst-Ausbildung stammten oft nicht aus dem Kanon des Bildungsbürgers. Gelernt wird durch „kreativen Konsum“ der Popkultur und durch Teilnahme an der „popular culture“, also Formen von Subkultur, in denen Arbeiter, Jugendliche oder Homosexuelle einen gewissen Widerstand zur herrschenden Kultur ausgedrückt haben.

Die „populäre“ Kultur – ein Netzwerk von Versammlungsorten, Stilcodes und Vergnügungsformen – könnte man durchaus als einen Lernzusammenhang begreifen, in dem alternative Formen von Wissen weitergegeben werden. In den 70er-Jahren hat man sich in den kritischen Sozialwissenschaften noch die Frage gestellt, ob das schlechte Abschneiden von Arbeiterkindern bei Testverfahren im Bildungsbereich nicht auch mit dem Test selbst zu tun haben könnte. Und so haben Untersuchungen gezeigt: Die meisten Tests beruhten auf dem kulturellen Wissenskanon der Mittelschicht. Wenn es um Technik, Autos, Musik, Fußball oder Fernsehen ging, da offenbarten die Arbeiterkinder plötzlich ungeahnte Dimensionen eines erstaunlichen Detailwissens. Diese Form des Wissens befähigte nicht dazu, einen Besinnungsaufsatz zu schreiben, sondern in bestimmten Kontexten dabei zu sein, in Sachen Aussehen und in Sachen Mitreden. Ein Wissen von Einzelheiten war gefordert – bestimmte Platten, die richtigen Klamotten und Läden, das Personal von Serien und Soaps, oder aktuell: die neuesten Computerspiele. Bei Gesprächen im Stadion beispielsweise geht es in erster Linie um Details – um Mannschaftsaufstellungen, Spieler, Spielsysteme, vergangene Siege und Niederlagen, Auf- und Abstiege usw.

Solche kollektiven Wissensformen bilden sich auch in (sub)politischen Zusammenhängen. Die Teilnahme an einer Gruppe mit einem politischen Anliegen oder an einer Interessenvertretung oder an einem alternativen Projekt lassen Fertigkeiten entstehen, die Mittel bereitstellen für die verantwortliche Organisation von Tätigkeiten. Zudem bringt solche Arbeit es mit sich, dass man einen kritischen Blick erwirbt auf den Wissenskonsens in der Gesellschaft. Zumeist stimmt man ja mit der herrschenden Meinung nicht überein und eignet sich Mittel an, um zu verstehen, wie jene gebildet, befestigt und weitergegeben wird. So entsteht ein Wissen über das Wissen: Personen werden zu Diskursanalytikern.

Körper-, Detail- und Organisationswissen sowie das Wissen über Wissen sind Formen, die in der hiesigen Pädagogik bislang so gut wie keinen Platz haben. Dabei handelt es sich um Kenntnisse, die in der so genannten Wissensgesellschaft längst zwingend notwendig geworden sind. Das betrifft zunächst Konsum. Statt Computerspiele regelmäßig zum Objekt einer moralischen Erregung zu machen, wäre es notwendig, den Kindern eine Art „popkulturelle Alphabetisierung“ zu ermöglichen, die ihnen den selbstbewussten Umgang mit den Spielen ermöglicht. Um dann jene Fertigkeiten weiter zu fördern, die das Spielen mit dem Computer hervorbringt – Lesekompetenz in Sachen Bilder, Vertrautheit mit technischen Details, Geschicklichkeit und Koordination.

Auch im Bereich der Arbeit ist das mechanische Wissen von „Stoff“ längst nicht mehr die wichtigste Voraussetzung. Die Arbeit in den heutigen Zukunftsbranchen erfordert etwa einen hohen Grad an Organisationswissen. Je mehr die Verantwortung im Betrieb an die Basis verlagert wird, desto mehr ähneln die Organisationsformen jenen, die man früher nur in alternativen Projekten gefunden hat – so sollen Motivation und Identifikation angeregt werden. In diesem Sinne müsste Organisationswissen ins allgemeine Curriculum gehören, aber auch die Ausbildung von Körperwissen. Denn so könnte man auch unterscheiden, gewissermaßen „riechen“ lernen, ob man in einem Unternehmen arbeitet, in dem man tatsächlich eigenverantwortlich arbeiten kann oder ob es bloß Sprechblasen über flache Hierarchien sind, die traditionelle Autoritätsstrukturen bemänteln.

In einer Gesellschaft, in der die herkömmlichen Linien der Tradition zunehmend abreißen, werden auch alternative Wissensformen nicht mehr selbstverständlich weitergeben. Das Stadion etwa ist heute nicht mehr ein allgemein zugänglicher Ort, an dem durch Detailwissen eine „populäre“ proletarische Kultur weitergegeben wird, sondern eine differenzierte kommerzielle Sphäre, die sich nicht mehr jeder leisten kann. Dieser Verlust an Milieuzusammenhang und „peer-to-peer“-Bildung trifft vor allem die „Unterschicht“. Zur gleichen Zeit heben Mittelschichtskinder nach „oben“ ab, denn sie werden schon im frühen Alter in ein durchaus einschnürendes Netz von Dauerförderung verstrickt. Umso wichtiger ist es, dass alternative Lernformen in die Curricula der Zukunft eingebaut werden. Ein „Fach“ wird „funke wisdom“ sicher niemals werden. Zunächst einmal ist der Erwerb von organischer Weisheit eine Aufgabe – und zwar für Lehrer, Pädagogen und Bildungspolitiker.

Der „Summit“ im Berliner HAU wird sich bis Sonntag alternativen Formen von Bildung und Wissensproduktion widmen. summit.kein.org