Einst im Natürlichkeitstaumel

Der Monte Verità in Ascona – eine frühe Gegenwelt für Zivilisationsflüchtige. Vom Zentrum der Bewegung über das Künstlernest und den Fluchtpunkt für Emigranten zum Luftkurort. Der Schlüssel zur Geschichte des Ortes liegt in der Villa Anatta

Hier trafen sich Freimaurer, Frauenbefreier und Pendelschwinger Im Bermudadreieck des Geistes wurden unzählige Utopien durchlebt

VON LILO SOLCHER

„Auf einem Hügel von 350 Meter absolute Höhe und 150 Meter über dem Lago Maggiore, im Mittelpunkt dreier Thäler gelegen, im weiteren Umkreis von schneebedeckten Bergen umkränzt, fern dem höllischen Getriebe und den Übelständen der Städte, bietet der Monte Verità dem Beschauer den Anblick eines großartigen und vielseitigen Panoramas.“ Henri Oedenkoven, der Gründer der Kolonie auf dem Hügel Monescia oberhalb von Ascona, war ein Weltflüchtling. Auf dem Tessiner Berg suchte er um 1900 mit einer Gruppe von Gleichgesinnten einen Ausweg aus der zivilisatorischen Öde. Übersättigung, innere Leere, Ziel- und Sinnlosigkeit des Lebens angesichts steigender Lebenserwartung – all das, was viele auch heute wieder umtreibt –, führte zu einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der Lebensreform. Oedenkoven und seine Mitstreiter predigten die freie Entfaltung des Individuums zwischen den Blöcken. Und der Monte Verità sollte ihr kleines Paradies sein.

Die Bäume sind weiter gewachsen, in ihrem Schatten breitet sich der Rasen aus wie ein grüner Teppich. Verstreut im Park und versteckt zwischen Büschen stehen noch einige der kargen Licht- und Lufthütten der Pioniere, im Zentrum erhebt sich die Villa Anatta, einst Wohnsitz von Oedenkoven und seiner Lebensgefährtin Ida Hofmann. Doch niemand tanzt mehr im Natürlichkeitstaumel ums Haus, vorbei die Zeiten der nackten Sonnenanbeter und der wallenden Bärte. Der Schlüssel zur Geschichte des Monte Verità liegt in der Villa Anatta.

Sämtliche Räume der Jugendstilvilla sind Museum. In Bildern und Büchern, in Fotos und Schriften evozieren sie die Zeit, als Ascona das „Bermudadreieck des Geistes“ war, wo unzählige Utopien erprobt, durchlebt und durchlitten wurden. Der Monte Verità war Nährboden für Weltinterpretationsversuche aller Art: Hier huldigten die Vegetarier der neuen Demeter, hier suchten die Bauhaus-Künstler den Gegenentwurf, hier trafen sich Freimaurer und Frauenbefreier, Theosophen und Anthroposophen, Traumdeuter und Psychoanalytiker, Pendelschwinger und Geisterbeschwörer, Nudisten und Buddhisten, Künstler und Lebenskünstler. Kurz alle, die der technisierten Welt den Rücken gekehrt hatten. Die Namen sind Legende: Hesse und Klabund, Claire und Yvan Goll, Franziska zu Reventlow und Isadora Duncan, James Joyce und Rainer Maria Rilke, Hans Arp und Paul Klee, Gropius und Schlemmer, Moholy-Nagy und El Lissitzky, C.G. Jung und Max Oppenheimer. Die Liste ließe sich verlängern.

Für die biederen Schweizer war der Berg der Wahrheit eine Art Sündenpfuhl. Vor allem die leicht bekleideten Frauen erregten das Missfallen der örtlichen Weiblichkeit. Doch auch die Bewohner selbst ätzten gerne über die sektiererische Gemeinschaft und ihren autoritären Individualismus. 1916 etwa schrieb der Dadaist Hugo Ball an Tristan Tzara: „Sie fragen mich nach Ascona. Das ist ein Ort ohne jeden Komfort, wo man momentan kaum ein Zimmer mieten kann. Es gibt eine Menge schafblöder Naturmenschen, die in Sandalen und römischen Tuniken wandeln. Es gibt keine Unterhaltung, keine Bücher, keine Zeitungen. Es gibt hier nur schönes Wetter.“

Der Traumberg der Reformer war längst zum Kuriositätenkabinett verkommen, als Eduard Freiherr von der Heidt 1926 das ganze Areal erwarb und es zum Kunstwerk wagnerianischer Prägung uminterpretierte mit Parzivalwiese, Walkürefelsen und Harrassprung. Zwar wollte auch der adlige Gönner ein Weltdorf errichten, eine internationale Drehscheibe, auf der sich Gesellschaft und Politik, Finanz und Kultur, Philosophie und Religion vorurteilslos begegnen könnten. Aber mit seinem Engagement ging die Ära der Askese zu Ende, der Jetset hielt Einzug.

Fast ehrfurchtsvoll stehen Besucher aus aller Welt vor den Vitrinen, lesen sich gegenseitig die Namen vor. Nicken. Staunen. Die Villa Anatta ist wie eine Schatztruhe, aus der längst Vergessenes zum Vorschein kommt und Erinnerungen weckt. Magnetische Anomalien bescheinigen Wissenschaftler dem Berg.

Für Hermann Hesse wurde einer der Pioniere, Gusto Gräser, der radikal alle Konventionen ablehnte und später als eine Art Ur-Hippie in einer Felsspalte hauste, zum Vorbild. Auch Erich Mühsam, der Schriftsteller, Anarchist und Bohemien, der 1919 an der Ausrufung der freien bayerischen Republik beteiligt war und 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet wurde, wollte sich nicht vereinnahmen lassen: „Außerhalb des Monte Verità aber, in Hütten und Gärten ringsum, auf den Anhöhen Asconas, da saßen die Schwärmer, die Narren, die – möchte immer ihr Weltbild verworren und ihr Schatten wirklichkeitsfremd und selbst lächerlich sein,– den Traum der Menschheitssehnsucht nicht für das Linsengericht zeitlicher Möglichkeiten hergaben.“

Die Narren sind Geschichte. Ascona hat sich gewandelt, vom Zentrum der Bewegung über das Künstlernest und den Fluchtpunkt für Emigranten zum Luftkurort und Touristenziel. Jetzt suchen die Touristen nach den Spuren der Weltverbesserer. Das Elisarion des Elisar von Kupffer, einst ein Tempel des Erhabenen, öffnet sich nur demjenigen, der in der Villa Anatta den Schlüssel holt. Die Freiluftdusche, unter der die Naturfreaks ihren Körper stählten, rostet vor sich hin, im Schwimmbad macht sich ein Konzertpavillon breit. Doch die Luft ist rein wie ehedem, das Wetter schön. Und das höllische Getriebe, kommt nicht herauf. Der Berg bewahrt sein Geheimnis.

l970 übernahm der Kanton Tessin den Monte Verità, 1981 wurde die Casa Anatta als Museum (April–Juni, Sept.–Okt. Di.–So. 14.30–18 Uhr, Juli/Aug. Di.–So. 15–19 Uhr) eröffnet, in dem die Geschichte des Monte Verità eindrucksvoll dokumentiert ist. Sie belegt „die Abfolge der Invasionen von Utopien aus dem Norden“.