BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Das Leben der anderen

Seit ich ein digitales Aufnahmegerät habe, schneide ich mit Begeisterung heimlich Gespräche mit

Ich belausche unglaublich gerne Gespräche. Das war schon zu Ostzeiten so. Ich spitzte die Ohren, wenn sich Frauen im Bus stolz die Bückware in ihren Einkaufsbeuteln zeigten, wenn sich Männer im Zug mit Worten wie „Na du alter Pimpersack“ begrüßten, wenn jemand hinter vorgehaltener Hand auf Erich Honecker, „das Schwein“, schimpfte. War ja sonst nicht viel los.

Seit jeder sein Privatleben am Handy ausbreitet, werde ich zwangsläufig Ohrenzeugin vom Leben der anderen. Und jetzt kommt Geständnis Nummer zwei: Manchmal schneide ich Gespräche mit, ohne dass die anderen das wissen. So wie der Stasi-Hauptmann in dem Oscar-gekrönten Film „Das Leben der Anderen“. Mit dem Unterschied, dass ich keine Berichte schreibe.

Es fing damit an, dass ich mir ein digitales Aufnahmegerät und ein kleines Mikrofon gekauft hatte und darauf brannte, die tolle Westtechnik auszuprobieren. Erstes Opfer wurde eine betagte Verwandte, deren unglaublich lautes Schnarchen ich nach einer feucht-fröhlichen Familienfeier aufnahm. Ein Onkel warf mir am nächsten Morgen, als ich die Aufnahme zur Erheiterung der anderen vorspielte, eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte vor. Er hatte Angst, ich könnte auch an seiner Schlafzimmertür lauschen.

Ich rächte mich an seiner Humorlosigkeit auf meine Art. Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg, um in einem Naturschutzgebiet Misteln für das bevorstehende Weihnachtsfest zu holen. Ich dachte mir, dass das Ritscheratsche der Säge ein wunderbarer O-Ton wäre. Dass mein Onkel Leiter eines Umweltamtes ist und Misteln aus Naturschutzgründen eigentlich nicht von den Bäumen heruntergeholt werden dürfen, machte es noch besser. Als ich beim Mittagessen die Aufnahme vorspielte, nannte mich mein Onkel einen Schmarotzer.

Das nächste Opfer war mein Vater. Meine Mutter lag nach einer Operation im Krankenhaus und mein Vater war zum ersten Mal in seinem Leben mit Kochen und Haushalt auf sich allein gestellt. Damit meiner Mutter dieses Spektakel der Hilflosigkeit nicht entgeht, schaltete ich unbemerkt das Mikro ein, als mein Vater einen schon fix und fertig zubereiteten Thüringer Mutzbraten warm machte. Für ihn war das wie eine Expedition an den Nordpol. Er bewegte sich auf total unbekanntem Terrain.

Zuerst machte er die Pfanne so heiß, dass sich die Temperatur in der Küche schlagartig um einige Grad erhöhte. Dann warf er ein halbes Stück Butter in die Pfanne und ließ das Fleisch darin schwimmen. Was für O-Töne! Die satten Spritzer, die uns um die Ohren flogen, und die Kommentare meines Vaters, eines pensionierten Arztes, der über Fleischporen und das Abtöten von Bakterien dozierte. Als ich meiner Mutter die Aufnahmen im Krankenhaus vorspielte, musste sie so sehr lachen, dass sie Angst hatte, dass die frische OP-Narbe aufplatzen könnte. Mein Vater kündigte an, sich in Zukunft ganz genau zu überlegen, worüber er mit mir redet. Das war mir recht.

Wahnsinnig gerne würde ich eine Sendung mit heimlich mitgeschnittenen Gesprächen machen. Weil die Menschen hüben und drüben leider immer noch viel zu viel übereinander statt miteinander reden, könnten sie so wenigstens erfahren, was die einen über die anderen sagen.

So wie neulich dieses Gespräch zwischen der Betreiberin eines Cafés mit dem schönen Namen „Hugo der Reisende“ am Rande des Treptower Parkes in Ostberlin mit einer Freundin. Die Chefin, eine resolut-pragmatische Ostfrau, erzählte von einem Kuraufenthalt in Bad Kissingen, dem Kurort schlechthin in Deutschland. „Ich wollte nicht von früh bis abends bespaßt werden“, sagte sie. „Aber der Service an DEM Standort, nee, wirklich.“ Es fielen Worte wie „Schleuderservice“ und besorgte Nachfragen der Freundin. „Schulspeisung?“

Zum Schluss schmiss die von dem Westkurort enttäuschte Ostpatientin die Softeismaschine an. „Das nächste Mal fahre ich wieder nach Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz“, verkündete sie und leckte zufrieden an ihrem Softeis. „Sollen die anderen nach Bad Kissingen fahren.“

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