Sie waren so jung und reich

SOMMERGÄSTE Mercè Rodoreda: „Der Garten über dem Meer“

Gerade noch scheint der Sommer zu beginnen, und schon werden die Schatten lang und traurig

VON ULRICH RÜDENAUER

Ganz unscheinbar wirken manche Figuren. Vermeintlich stehen sie am Rand, aber nur, um alles genau betrachten zu könnten. Der alte Gärtner, den Mercé Rodoreda zum Erzähler ihres Romans „Der Garten über dem Meer“ macht, ist so eine hinreißende Figur: Er hat einen ehrfürchtigen Blick auf die Natur und einen nüchternen auf die Welt seiner Herrschaften, die es in den Sommermonaten aus Barcelona ans Meer zieht. Von dieser Jeunesse dorée der 1920er, 1930er Jahre ist dieser Gärtner so weit entfernt, wie man nur von einer anderen Gesellschaftsschicht entfernt sein kann, doch er ist das Zentrum dieser Sommerresidenz und des Romans; um ihn herum, auf ihn zu oder von ihm weg bewegen sich all die Figuren: Senyoret Francesc und seine Frau Rosamaria, die Dienstboten und die Gäste Eulàlia oder der Künstler Feliu Roca, der in seinen Bildern immer wieder den Zauber des Meers zu bannen sucht – eines verführerischen, anmutigen Meers, dessen Rauschen den Soundtrack des Buchs liefert, dessen Farben eine eigene Atmosphäre schaffen und dessen Gewalt zur tragischen Pointe der Geschichte beiträgt.

Mercè Rodoreda, 1908 in Barcelona geboren und 1983 in Girona gestorben, gilt als wichtigste Autorin katalanischer Sprache des 20. Jahrhunderts. „Der Garten über dem Meer“ aus dem Jahr 1967 könnte man als Nebenwerk betrachten, aber das würde diesem vielschichtigen Buch kaum gerecht. Die Erinnerung, und wie das, was man erinnert, zu deuten ist, wie man mit seinen Erinnerungen haushalten und leben kann – das umspielt Mercè Rodoreda ebenso subtil wie das Verhängnis der Liebe und das Vergehen der Zeit. Der sanftmütige Ton, den sie für ihren alten, im Erinnerungslabyrinth wandelnden Gärtner gefunden hat und der von Kirsten Brandt ins Deutsche gebracht wurde, erscheint von einer lebenserfahrenen Tiefe. Schon auf den ersten Seiten deutet sich an, dass diese traumhafte Umgebung nicht nur eine Kulisse für die unbeschwerten Sommerfreuden verwöhnter Großstadtflüchtlinge ist. Stets liegt schon die Melancholie des Herbstes über der Szenerie: „Sie waren so fröhlich und so jung und so reich […] und hatten alles […] und dann geschahen zwei schlimme Dinge. Einmal sah ich einen Vogel, der sich zum Sterben hingelegt hatte. Er hatte wohl allen Lebensmut verloren. Wie Eugeni.“

Eugeni ist ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender, nach Brasilien ausgewanderter junger Mann, der mit seiner Frau und seinem reichen Schwiegervater nach Spanien zurückkehrt und in das Nachbaranwesen von Senyoret Francesc zieht. Langsam offenbart sich seine Vorgeschichte, die eng verschlungen ist mit der seiner Nachbarn: Er nämlich war die große Liebe von Rosamaria, die sich schließlich für den anderen, den wohlhabenden und gefestigten Francesc entschieden hat. Jeder trägt hier eine unglückliche Liebe mit sich herum, ein ungestilltes Verlangen wie die parvenühafte Miranda, oder ein verlorenes Glück wie der Gärtner selbst, dessen Frau Cecília viel zu jung gestorben ist. Inmitten des Gartens Eden verblühen diese Figuren mit ihren je eigenen Geschichten: Gerade noch scheint der Sommer zu beginnen, der Rausch und die Leichtigkeit; und schon im nächsten Moment werden die Schatten der Bäume „lang und traurig“, die Nachmittage „fahl“. Mercè Rodoreda beschreibt die Wechsel der Jahreszeiten und die flüchtigen, sich stetig wandelnden Stimmungen meisterlich, als würde alles nebenbei geschehen, wie in einem Film, in dem unmerklich die Farben der Landschaft sich ändern und damit auch unsere Wahrnehmung der Handlung; die Figuren schweben durch dieses Buch, mehr als dass sie gehen; die Dialoge sind ganz konkret und haben doch oft etwas Träumerisches.

Am Ende des letzten gemeinsamen Sommers geschieht ein Unglück, und die Gesellschaft, die sich im Garten über dem Meer zusammengefunden hat, löst sich wie nach einem trunkenen Fest auf. Nur einer bleibt zurück: jener Gärtner, der sich an diese Monate zu erinnern versucht, der tief mit seiner Vergangenheit im Bunde ist, weil sie ihn mit der Gegenwart versöhnt: „Sehen Sie sich die Linde an. Sehen Sie, wie die Blätter zittern und uns lauschen? Sie lachen? Wenn Sie eines Nachts unter den Bäumen spazieren gehen, werden Sie schon hören, was Ihnen dieser Garten alles zu erzählen hat.“

■ Mercè Rodoreda: „Der Garten über dem Meer“. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt. Mare Verlag, Hamburg 2014, 240 Seiten, 26 Euro