Vive la France

TEGEL Die ehemaligen Siedlungen der französischen Besatzer sind beliebte Wohngebiete – trotz des benachbarten Flughafens. Nach dessen Schließung haben sie Bestandsschutz

Gepflasterte Straßen, Wendehammer, Nadelbäume. Alles wirkt wie in einer typischen Vorstadtsiedlung

VON JULIANE WIEDEMEIER

Man muss schon sehr genau zuhören, um Jeff Burton bei dem Krach zu verstehen. „Es klingt komisch, aber die Flugzeuge hört man eigentlich kaum“, will er wohl sagen. „Wir haben den Flughafen Tegel zwar vor der Tür, aber im Auge des Sturms ist es verhältnismäßig ruhig.“ Über Burtons Fitnessstudio startet derweil ein Jet voll durch, hinein in den blauen Nachmittagshimmel.

Seit fünf Jahren ist Burton Besitzer eines Sportcenters in der Reinickendorfer Siedlung Cité Pasteur. In Nachbarschaft zum Flughafen liegt es zwischen Rue Charles Calmette, Rue René Laennec und Rue du Docteur Roux. Die klingenden Straßennamen verdankt das Gebiet seiner Geschichte – in den 50er Jahren wurde es für französische Militärs gebaut, die hier, außerhalb des Zentrums, ein Leben wie in Frankreich führten. Nach dem Abzug der Besatzer Mitte der 90er fiel das Land an den Bund, die Wohnungen wurden von Berlinern bezogen.

Abgeschieden leben sie heute auf einem Fleckchen Niemandsland, eingeklemmt zwischen Flughafen, Julius-Leber-Kaserne und Autobahn. Die Mehrfamilienhäuser sind funktional und schmucklos, doch dank der vielen Bäume und des geringen Verkehrs könnte die Siedlung fast idyllisch wirken, würden sich Flugzeug- und Automotoren von beiden Seiten nicht ein permanentes Lärmduell liefern.

„Mein Center war früher eine Sportanlage der französischen Armee“, erzählt Burton. Im Trainingsanzug sitzt er in einem der großen Sessel im Eingangsbereich beim Mittagessen: Bier und Kuchen. „Heute kommen Menschen aus ganz Berlin zu mir zum Squash-Spielen. Hier findet man immer einen Parkplatz, das ist ein großer Vorteil.“ Von seiner Clubkneipe abgesehen gebe es hier weder eine Gaststätte noch sonst einen Treffpunkt.

Auch in der Umgebung mangelt es dem Gebiet im einstigen französischen Sektor an Infrastruktur: Ob Supermarkt, Bäckerei oder Drogerie, die Cité Pasteur bietet nichts, was man zum täglichen Leben braucht. Die Menschen leben dennoch gern hier, meint Burton. „Man kann die Kinder frei laufen lassen, es ist grün und ruhig.“ Wer hier wohne, habe längst aufgehört, den Fluglärm wahrzunehmen. Vielmehr sei der Flughafen ein elementarer Teil des Viertels geworden. „Früher haben die Familien am Wochenende am Zaun gesessen, gepicknickt und dabei den Flugzeugen beim Starten und Landen zugesehen“, erzählt er. Als vor drei Jahren eine undurchsichtige Schallschutzwand errichtet wurde, habe es Proteste gegeben. „Aber im nächsten Jahr ist ja nun eh alles vorbei.“

Nach Tempelhof soll 2012 auch Tegel zugunsten des Großflughafens in Schönefeld schließen. Für die Bewohner der Cité Pasteur zunächst alles andere als ein Grund zur Freude, schien es doch gemeinsam mit dem Flugbetrieb auch ihrer ganzen Siedlung an den Kragen zu gehen. Schon vor zwei Jahren forderte die IHK Berlin in einem Positionspapier zur Nachnutzung Tegels, die Fläche in ein Gewerbegebiet umzuwandeln. „Anders als bei Industriearbeitsplätzen herrscht in Berlin kein Mangel an Wohnraum. Den Bewohnern muss ein attraktives Umzugsprogramm angeboten werden“, so die IHK. Der Abriss der Cité wurde diskutiert.

Die Sorge war verfrüht. Die Siedlung genieße Bestandsschutz, sagt Matthias Bick von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Diese beabsichtige weder, die Wohngebäude abzureißen, noch den Verkauf der Cité an einen Investor, der dann seinerseits einen Abriss planen könnte. „Die Cité Pasteur taucht in der mittelfristigen Verkaufsplanung der nächsten drei Jahr nicht auf.“

Auch der Reinickendorfer Baustadtrat Martin Lambert (CDU) gibt Entwarnung mit Verweis auf den Anfang Juni verabschiedeten Flächennutzungsplan, der die Cité Pasteur als Mischgebiet definiert. „Damit ist eine Wohnnutzung garantiert, auf die künftiges Gewerbe Rücksicht nehmen muss“, sagt Lambert. Denkbar seien aber auch dann nur kleine Firmen, vor einem großen Logistikunternehmen müsse niemand Angst haben. Vielmehr werde das Gebiet durch das Wegfallen des Fluglärms und der Emissionen aufgewertet, wenngleich Lärm und Abgase von der Autobahn blieben.

Zwei, denen die Schließung Tegels dennoch nicht passt, stehen mit großen Teleobjektiven auf dem Dach eines Baucontainers. Felix und Anian reisen jedes Wochenende aus Schöneberg an, um Flugzeuge aus nächster Nähe beim Starten und Landen abzulichten. „Wenn der Flughafen dichtmacht, müssen wir wohl bis Schönefeld fahren“, sagt der 13-jährige Felix. Weniger als über den weiten Weg mache er sich darum Sorgen, ob die Sicht auf das Flugfeld dort so gut sei wie hier in Tegel.

„Von der Cité Pasteur habe ich in einem Internetforum für Flugzeugfotografen gelesen“, erzählt er weiter. Dort habe er auch erfahren, dass man nicht immer freien Zugang zu dem Gelände gehabt habe. „Irgendwas hat das wohl mit französischen Soldaten zu tun.“ Außer den Straßennamen erinnert heute wenig an die Geschichte der Cité Pasteur. Dabei ist sie nicht einmal das einzige Viertel der Gegend, das seine Existenz den einstigen Besatzungstruppen verdankt.

Wer hier wohnt, hat längst aufgehört, den Fluglärm wahrzunehmen

Die Cité Guynemer im Norden des Flughafens erreicht man über eine Bedarfsampel. Lange steht man dort mit Blick auf eine Hundeschule und die Kleingartenkolonie Waldblick und wartet, bis man die Seidelstraße überqueren und in die Avenue Jean Mermoz als einzige Zufahrt zur Siedlung einbiegen kann. Am Straßenrand stehen Reisebusse und warten auf neue Besucher aus Tegel. Über den Kleingärten wehen deutsche Flaggen.

Das Viertel besteht aus gediegenen Einfamilienhäusern mit geschwungenen Gauben und großen Gärten, in denen Vogel- und Baumhäuser neben improvisierten Fußballtoren stehen. Die Straßen sind gepflastert, es gibt einen Wendehammer und viele Nadelbäume. Alles wirkt wie in einer typischen Vorstadtsiedlung, nur der Club Bouliste de Berlin, der auf einem großen Plakat für neue Mitglieder wirbt, verbreitet einen Hauch von Frankreich. Doch die Boule-Bahnen sind, wie die ganze Siedlung an diesem Nachmittag, völlig verwaist. Was freilich auch an dem Schild am Tor liegen könnte: „Zutritt nur für Vereinsmitglieder“.

Im Gegensatz zur Cité Pasteur musste die Guynemer nie um ihre Existenz bangen. Nach dem Abzug der Franzosen ging auch sie zunächst an den Bund über, der sie vor einigen Jahren an einen privaten Investor verkaufte. „Der Erwerber investiert in die Wohnsiedlung. Ein Abbruch ist nicht erkennbar“, sagt Matthias Bick. Zudem genieße auch diese Cité Bestandsschutz, von den Tegeler Nachnutzungsplanungen sei sie nicht betroffen.

Sogar die IHK erklärte die Cité Guynemer in ihrem Positionspapier für schutzbedürftig. Sie grenzt auch nicht direkt an den Flughafen, sondern ist von ihm durch die Avenue Jean Mermoz und einen breiten Grundstücksstreifen abgetrennt. Neben einem Altenheim, dem Hausmeisterbüro des Bundesvermögensamtes und zahlreichen verlassen wirkenden Gewerbegebäuden befindet sich dort ein hermetisch abgesperrter militärischer Sicherheitsbereich, der Unbefugten beim Betreten den Einsatz von Schusswaffen androht.

Ein krasser Kontrast zu der sonst so friedlichen Atmosphäre, die die Cité Guynemer mit ihren hohen Bäumen umgibt. In deren Wipfeln rauscht der Wind, Vögel zwitschern, die Ruhe klingt gar nicht nach Berlin. Bis man in den Himmel blickt und erkennt: Das Rauschen, das ist ein nahender Jet.