Wenn die Kunst es richten soll

In einer abgelegenen Werfthalle in Rostock bereitet die Initiative „Art goes Heiligendamm“ ihre G-8-Intervention vor. Die Kunstwerke handeln am liebsten von Grenzen und ihrer Überwindung. Ansonsten geht es um alles, was gut ist: Information, Dokumentation, Ironie, Utopie, Konsumkritik

Adrienne Goehler interessiert „die Schnittstelle von Kunst und sozialer Bewegung“ Dass die Werke kaum polarisieren, liegt am konventionellen ästhetischen Zugriff

Kein Hund zeigt sich vor dem Bahnhof an diesem pfingstmüden Morgen in Rostock. Schon vor dem großen Ansturm wirkt die Stadt wie erschlagen. Der erste Mensch taucht nach zehn Minuten auf, hat aber nichts von einer Kunstausstellung zum Thema G 8 gehört. Weiter zum Marktplatz, doch auch die Fremdenführerin mit dem Minibus weiß von nichts. In der Auslage des Europa-Shops liegen die Souvenirs für die Gipfel-Touristen bereit, Tassen und T-Shirts mit der blutroten Aufschrift „G 8 Heiligendamm 2007“. Als wäre das Ereignis schon Geschichte, bevor es überhaupt begonnen hat.

Am Hafen dreht ein Riesenrad, Kirmesstände mit Fischbrötchen und Unterwäsche warten auf Passanten. Keiner weiß etwas von der „Art goes Heiligendamm“. Für Nichteingeweihte ist die „künstlerische Intervention“ im Stadtraum von Rostock, angekündigt für den Zeitraum vom 24. Mai bis zum 9. Juni, nicht leicht zu finden. Der Kern der Ausstellung liegt auf dem etwas abgelegenen Gelände einer stillgelegten Werft; hier tut sich eine kleine Parallelwelt auf. Zwischen zwei Hallen warten Bierbänke, Boxen und eine mobile Küche auf den Einfall der Besucher. Überall wird gehämmert und gebohrt; bis zum letzten Moment war unklar, ob die Zwischennutzung des Geländes überhaupt bewilligt wird. Die Initiatorin Adrienne Goehler, frühere Berliner Kultursenatorin und ehemalige Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds, schiebt in leuchtend orangener Bauarbeiterweste eine Sackkarre mit Holzspänen vorbei und rückt für ein lokales Fernsehteam den roten Teppich zurecht. Auch hier, in der Gegenwelt zum G-8-Gipfel, dominiert die mediale Präsenz.

Der Läufer führt zur Rückwand der Werfthalle, verkleidet als klassizistischer Tempel. Eine Parodie auf das Nobelhotel Kempinski, wo die Achterrunde demnächst logieren wird, erklärt Axel Timm, Architekt des Raumlabors Berlin. Die geplante Installation, ein provisorisches „Congresscenter“, soll in den Gipfeltagen einem ganz praktischen Zweck dienen: In einem Bretterverschlag mit vierzig Kojen können müde Demonstranten mit Meerblick nächtigen. Am Wasser soll eine Sauna stehen, ein Container dient als Swimmingpool und ein wucherndes Wiesenstück wird zum Golfplatz erklärt. Nur der Zaun, der den Park umrunden soll, muss noch aufgerichtet werden. „Hier soll ein Rückzugsort entstehen, hier soll man sich am Zaun entspannen können und alles tun, was am echten verboten ist“, sagt Axel Timm. Eine künstlerische Intervention, die ein Refugium zum Entspannen bietet? Darf Weltverbessern denn Spaß machen? „Es muss sogar“, sagt Axel Timm, „denn sonst erreicht man die Leute nicht.“

Natürlich soll auch debattiert werden; abends werden Filme gezeigt, es gibt Vorträge und Gesprächsrunden. Die Kuratorin Adrienne Goehler versteht das Projekt als Resonanzraum für Inhalte, die in der Berichterstattung über G 8 oft verloren gehen: „Mich interessiert die Schnittstelle von Kunst und sozialer Bewegung.“ Wie sich das Happening in der Umsetzung gestaltet, werden die bewegten Tage im Juni zeigen. Noch besteht erst die Kunstausstellung in einer der beiden Werfthallen.

Bunte, schlauchartige Stoffsäcke hängen vom Dachgebälk und liegen als Sitzkissen auf dem Boden. Sie formieren einen Schriftzug, der „Allah“ bedeutet, wie der Katalog informiert. „Stitching the Wound – Die Wunde nähen“ heißt die Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani, doch schmerzhaft wirkt sie in diesem Kontext nicht, eher fröhlich verspielt. Mehr als 50 Künstler haben Werke zur Verfügung gestellt, die sich mit Globalisierungsthemen beschäftigen; viele handeln von Grenzen und ihrer Überwindung. In „Love Sum Game“, einem Video von Eytan Heller, spielen sich ein Israeli und ein Palästinenser einen Tennisball über eine hohe Mauer hinweg zu, ohne sich je zu sehen. Im Hof hat Francis Zeischegg ein Stück Wildgatter aufgestellt, eine Holzleiter lädt zum Übersteigen ein. Daneben rascheln unzählige bunte Plastiktüten im Wind, die Dodi Reifenberg mauerartig in einen Maschendrahtzaun verknotet hat.

Auffallend viele Arbeiten wählen einen dokumentarischen Zugriff. In Hörmuscheln gekuschelt kann sich der Zuhörer die Lebenswege von Migranten anhören; in der nahe gelegenen Petrikirche werden Globalisierungsgegner aus aller Welt porträtiert. Litfaßsäulen in der Stadt sind mit Fotografien plakatiert, die Kinderarbeit in Indien zeigen, mexikanische Flüchtlinge an der Grenze zur USA, Slums in Bangladesch. Information, Dokumentation, Ironie, Utopie, Konsumkritik – obwohl die Ausstellung mit ernsthaften Inhalten und Absichten antritt, lässt das Sammelsurium ein leichtes Unbehagen zurück. Dass sie nicht polarisierend wirkt, liegt zum Teil an konventionellen künstlerischen Zugriffen, zum Teil am Overkill, vor allem aber an der aufklärerischen Absicht, mit der das Projekt antritt. Der Kunst komme zunehmend die Funktion des Dokumentierens zu, sagt Adrienne Goehler.

Doch greift das nicht zu kurz in einer Gesellschaft, die nicht an Informationsmangel, sondern an Handlungsschwäche leidet? „Art goes Heiligendamm“ kommt einem vor, als ob der Kunst ein politischer Auftrag übergeben wird, an dem die Gesellschaft scheitert. Was die Ausstellung nicht thematisiert, sind die Ohnmachtsgefühle nach Diskussionen, die zum Alibi für Handeln werden.

Stichwort Heiligendamm. In die nächste Parallelwelt führt Molli, die schnuckelige Dampflok. An den Kontrollpunkten vorbei tuckert sie ins Idyll der Sperrzone, spuckt die Passagiere an einem kleinen Bahnhof aus, renoviert im Zuckerbäckerstil. Auf einem lichten Waldstück geht’s zum Strand, dahinter öffnet sich der Blick auf die nebelverschleierte Küste des Kurorts. Ein Hubschrauber kreist über verfallenen Villen, nur eine Ecke des Ortes ist neu saniert. Eine Aura des Hermetischen umgibt das Nobelhotel mit der pseudogriechischen Säulenfront, die in fast parodistischer Weise an das weiße Haus erinnert. Einige Meter davor stehen zwei Strandkörbe, malerisch ans Wasser gerückt, darin prosten sich Menschen in Anzügen mit Cocktails zu. „Ihr habt ganz viel Spaß“, brüllt die Kameraassistentin im Hubschrauberlärm den Akteuren zu. Die versuchen krampfhaft lächelnd, sich aufrecht zu halten in den Körben, die meerwärts langsam ins Wasser sinken.

Die Zaungäste lachen, doch als der Dreh zu lange dauert, verlieren sie das Interesse, spazieren auf die Seebrücke hinaus. Dort hat es jemand geschafft, eine kleine Botschaft anzubringen. „No G 8“ steht auf den Rettungsringen. In wasserlöslicher Kreideschrift. IRENE GRÜTER