Fröhliche Hermeneutik

Performance Am Sonnabend präsentiert sich das Geviert „Bernsteinzimmer“ mit seinem Abendprogramm „Hungern für den Klimaschutz“

„Wir gehen von Latenzströmen des Irrationalen aus, weil wir an die Rationalität nicht glauben.“

von Tim Schomacker

Entgegen dem landläufigen Verständnis lässt sich Nervosität auch ganz anders lesen. Als Aufmerksam- und Wachsamkeit, als erhöhte Rezeptorentätigkeit. Will man so etwas wie einen Gefahrensinn näher bestimmen, kommen sprachliche Anleihen aus der Zoologie (Witterung) und aus der Elektromechanik (Bewegungsmelder). Das fröhlich hermeneutische Performance-Quartett „V. B. Schulzes Bernsteinzimmer“, das seit einem Jahrzehnt im Lagerhaus auf monatlicher Basis die Gegenwart in den Blick nimmt, ist ein hoch nervöses Unternehmen.

Die Ankündigung zur kommenden Ausgabe – „Hungern für den Klimaschutz“ – liest sich wie ein politisches Flugblatt. „Es geht darum, dass Anbauflächen für Nahrungsmittel zunehmend zur Treibstoffgewinnung genutzt werden“, sagt V. B. Schulze. „Das gründet in echter Empörung.“

Andere Themen und Stichworte würden eher aus einer spaßigen Bemerkung heraus als Spielregel gesetzt, meint Schulze. Stets gehe es um eine Notwendigkeit. Nun ist das Bernsteinzimmer kein Debattier-Club, sondern ein äußerst eingespieltes Gebilde, irgendwo zwischen Dada, Wiener Aktionisten und aufgeklärtem Schamanismus: mit improvisierten Songs, gebrochenen Bildern, (scheinbar) absurden Aktionen und charmanten Soundflächen. Gewiss würden diverse Avantgarden da unterschwellig mitlaufen, sagt Schulze. Wenn es aber einen wirklichen Bezugspunkt dieser eigenartigen Form gebe, dann die Fernsehgespräche Alexander Kluges mit dem Schauspieler und Schriftsteller Peter Berling. „Die beiden wollen ja gemeinsam etwas herausfinden: nicht nur über ein Thema, sondern auch über sich.“

Was Schulze gemeinsam mit dem Elektroniker C. W. Unruh, dem Gitarristen Jens Willemer und dem Bilderproduzenten Timòteo zelebriert, erinnert an uralte Formen des Rituals. „Für ein echtes Ritual sind wir spirituell nicht tief genug“, sagt Schulze, „aber wir gehen von Latenzströmen des Irrationalen aus, weil wir an die Rationalität nicht glauben.“

Mit der Kritik der gegenwärtigen politischen Ökologie werden uralte Vorstellungen berührt von dem, was „Natur“ und „Kultur“ und „Zivilisation“ sind oder sein könnten. Oder zu sein hätten. Des Bernsteinzimmers Unruhe ist einer „Zeitenwende der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung“ auf der Spur. Ohne vorher genau zu wissen, was dabei herauskommt. „Wir proben dezidiert nicht mehr“, sagt Schulze. „Jeder weiß das Thema. Am Abend setzen wir dann zusammen, was jeder dazu vorbereitet hat.“ Zu den großen Stärken des kleinen Bernsteinzimmers gehört es, diese gezielte Ungewissheit dem Publikum Monat für Monat anschaulich zu machen.

■ “Hungern für den Klimaschutz“ von V. B. Schulzes Bernsteinzimmer ist am Samstag, 25. Juni, um 21 Uhr in der Medien-Coop im Lagerhaus zu sehen. Weitere Informationen im Internet: www.bernsteinzimmer.hunot.de