„Die Jesiden haben keine Lobby“

MINDERHEITEN Songül Tolan vom Zentralrat der Jesiden fordert die Bundesregierung dazu auf, traumatisierte Flüchtlinge aufzunehmen und den UN-Sicherheitsrat anzurufen

■ 26, ist Sprecherin des Zentralrats der Jesiden. In Deutschland leben bis zu 100.000 Jesiden, die meisten in Niedersachsen.

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Frau Tolan, wie sehr nehmen die Jesiden in Deutschland Anteil am Schicksal Ihrer Glaubensgeschwister im Nordirak?

Songül Tolan: Wir verfolgen das sehr intensiv, telefonieren mehrmals täglich in die Region und leisten aktiv Hilfe, sammeln Spenden und veranstalten Mahnwachen. Sie müssen wissen, das Jesidentum ist nicht bloß eine Religion, sondern eine Religionsgemeinschaft. Das sind unsere Brüder und Schwestern, die gerade diese extremen Qualen durchstehen müssen.

Während die Welt auf Kobani schaut, halten IS-Milizen im Nordirak die letzten im Sindschar-Gebirge verbliebenen Jesiden seit Wochen eingekreist. Wer harrt denn da noch aus?

Im Ort Sherfedin, der zweitwichtigsten Pilgerstätte der Jesiden, befinden sich noch 3.000 Soldaten der jesidischen Bürgerwehr sowie 7.000 Zivilisten. Sie haben Zugang zu einer Wasserquelle, aber sind in großer Not. Die Munition geht den Kämpfern aus, manche hatten am vergangenen Montag schon Abschieds-SMS an ihre Familien geschrieben. Erst am Donnerstag kam Unterstützung durch Hubschrauber der irakischen Luftwaffe.

Woran liegt das?

Zum einen hatte sich ein dichter Nebel gebildet und Luftschläge erschwert. Zum anderen könnte von der Regionalregierung mehr Hilfe kommen als die wenigen Peschmerga, die zur Unterstützung ins Sindschar-Tal entsandt wurden. Die Stadt Mossul, die reich an Bodenschätzen ist, wird von den Peschmergas stattdessen mit vollem Einsatz unterstützt.

Warum gibt es diese Unstimmigkeiten mit der kurdischen Autonomieregierung? Sie hat doch auch aus Deutschland Waffen bekommen, um die Jesiden zu schützen.

Die jesidische Verteidigungseinheit kämpft für eine von Jesiden verwaltete Sindschar-Region, was die kurdische Regionalregierung in Erbil nicht will. Dabei verleugnen die Jesiden ihre kurdische Volkszugehörigkeit nicht und wären auch bereit, sich an die Regionalregierung anzuschließen. Aber wenn die Peschmerga zu lange warten, dann brauchen sie nicht mehr nach Sherefdin vorzurücken, weil es dann zerstört sein wird.

Die IS-Milizen zerstören jesidische Heiligtümer?

Es ist ihr erklärtes Ziel, das Jesidentum auszulöschen. In der Sindschar-Region sind die wichtigsten Pilgerstätten und die Geistlichen zu Hause, die das Archiv und das Herz der Religion lebendig halten. Deshalb sprechen wir von einem Genozid, der an den Jesiden verübt wird.

Bei drohendem Völkermord müsste die UNO eingreifen. Aber auch Deutschland ruft den Sicherheitsrat nicht an. Wieso?

Wir glauben nicht, dass es bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zu einem Veto kommen würde, wenn es um den Schutz eines unschuldigen Volkes geht. Aber die Jesiden haben keine Lobby und keinen Einfluss.

Was fordern Sie konkret?

Wir bitten die internationale Gemeinschaft darum, eine Befreiungsaktion zu starten. Unser größter Wunsch ist ein Mandat durch den Sicherheitsrat, damit der IS zerschlagen werden kann – auch in Syrien. Das sollte auch im Interesse des Westens sein. Denn man muss damit rechnen, dass der IS Terroranschläge gegen den Westen plant, sobald er sich konsolidiert hat. Heute sind wir die Opfer. Aber morgen können andere die Opfer sein.

Selbst wenn der IS besiegt werden sollte: Ist an eine Rückkehr noch zu denken?

Viele jesidische Flüchtlinge fühlen sich von der kurdischen Autonomieregierung verraten und glauben nicht, dass sie in ihrer Heimat noch geschützt sind. Sie sind schwer traumatisiert und wollen die Region für immer verlassen, weil sie ein Leben in Frieden und Freiheit führen wollen. Aber wir wollen diese Region nicht aufgeben. Wir bitten deshalb die internationale Gemeinschaft, eine Schutzzone einzurichten, um eine jesidische Selbstverwaltung zu ermöglichen. Und wir wünschen uns von der Bundesregierung, zumindest eine zeitweise Aufnahme von Vergewaltigungsopfern und besonders traumatisierten Flüchtlingen zu ermöglichen.

Wissen Sie, wie viele Leute aus Deutschland an der Seite der Kurden und Jesiden gegen die IS-Milizen kämpfen?

Nein, vielleicht ein paar Hundert? Bei uns haben sich viele junge Männer gemeldet, und wir halten niemanden aktiv auf, der den Wunsch äußert, sich den Kämpfern anzuschließen, aber wir können das nicht aktiv unterstützen. Man erreicht mehr, wenn man Hilfsaktionen in Deutschland organisiert. Leider scheint das für viele junge Männer nicht cool genug zu sein.