Atomkraft – sind die Grünen zu weich?
JA

AKW Ausstieg bis 2022 – das soll der Bundestag nächste Woche beschließen. Die Grünen müssen diesen Zeitplan von Angela Merkel mittragen, findet die Parteispitze

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taz.de/sonntazstreit

Brigitte Behrens, 60, ist Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland

Sie sind nicht konsequent. Vor drei Monaten beschloss der Länderrat, „das Atomzeitalter in Deutschland in der kommenden Legislaturperiode endgültig zu beenden.“ Nun wollen die Grünen dem Plan der Kanzlerin zustimmen, acht AKW sofort stillzulegen, aber in der nächsten Legislatur nur noch ein einziges vom Netz zu nehmen. Sechs der acht restlichen Reaktoren will Frau Merkel sogar noch in der überübernächsten Legislatur laufen lassen, bis 2022 endlich Schluss sein soll. Das sollten weder die Grünen noch andere Parteien akzeptieren. Natürlich ist es ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Frau Merkel, die die Laufzeiten ohne Skrupel verlängerte, zum rot-grünen Atomausstieg von 2001 zurückkehrt. Aber das ist kein Grund, diesem unverantwortlich langsamen Ausstieg zuzustimmen. Fukushima hat die Sicherheitsbewertung der Kanzlerin verändert, aber offenbar nicht die der Grünen.

Ulrike Mehl, 54, ist Vizevorsitzende des Bunds für Umwelt und Naturschutz BUND

Als Rot-Grün den Ausstiegsbeschluss vor über zehn Jahren feierte, war für die Grünen eine wichtige Feststellung: Das ist jetzt unumkehrbar! Spätestens seit der Laufzeitverlängerung der CDU war klar, was vorher schon klar war: Von Menschen gemachte Gesetze werden auch von Menschen geändert. Das galt damals genau wie heute. Wenn nicht sofort und mit aller Macht in den Ausbau der Erneuerbaren Energien und das Steigern der Energieeffizienz eingestiegen wird, könnte sich eine Regierung zum Beispiel 2016 den Atomausstieg noch einmal anders überlegen. Die Grünen haben 2011 für sich erkannt, dass der Ausstieg sowohl technisch wie auch politisch bis 2017 umsetzbar ist. Wenn das nicht nur politisches Säbelrasseln war, dann gibt es keinen Grund dafür, dass die Grünen sich auf das CDU-Laufzeitende 2022 einlassen. Für ihre Glaubwürdigkeit halte ich es für wichtiger, bei den eigenen Erkenntnissen zu bleiben. Innerhalb der Umweltbewegung würde das zur Ernüchterung führen: Die Grünen sind wieder einmal in der Realpolitik angekommen, der Kampf um die Realisierung von zukunftsweisenden Visionen findet nicht statt.

Emily Büning, 26, Bundessprecherin der Grünen Jugend und zurzeit Rechtsreferendarin

Die Grünen setzen sich seit dreißig Jahren mit Umweltverbänden und Bewegungen dafür ein, die Atomkraft endlich abzuschalten, und haben die Regierung zum Einlenken bewegt. Da dürfen sie jetzt nicht kurz vor dem Ziel klein beigeben. Sie wissen, dass ein Ausstieg bis 2017 möglich wäre, und haben dies auch beschlossen. Es steht doch nicht in Frage, dass sie für den Atomausstieg sind. Dennoch meinen einige, sie müssten der Regierung hinterherlaufen. Obwohl Merkel zwar einen „Konsens“ ausgerufen, aber nur mit Kretschmann und weder mit der Bewegung noch mit der Grünen-Spitze verhandelt hat. Obwohl nicht für Sicherheit gesorgt ist, die vorgelegten Schritte zur „Energiewende“ bei weitem nicht reichen. Und obwohl der Schwarzbau in Gorleben weitergehen soll. So einem „Konsens“ dürfen die Grünen nicht zustimmen. Sie gehören an die Seite der Anti-AKW-Bewegung.

Ambrosius Theis, 73, Industriekaufmann, kommentierte die Frage auf taz.de

Wer Grün wählt, muss sich darauf verlassen können, dass Grün auch Grün bleibt. Ist das nicht mehr der Fall, verschwindet der Anti-Atom-Erfolg in Verbindung mit S 21 ganz schnell. Danach wird es für die Grünen sehr, sehr schwer werden, die Verluste gutzumachen. Grün soll bei der Basis bleiben, denn dort sind ihre Wähler. Wenn die Grünen Angst haben, dass Merkel die Sahne für sich abschöpfen will, dann müssen sie hart bleiben. Keine faulen Kompromisse! Verschärfte Sicherheitsbestimmungen – und strengste Kontrollen!

NEIN

Rebecca Harms, 54, Chefin der Grünen im EU-Parlament, lebt im Wendland

Was wir in Deutschland erreicht haben, halten meine grünen Kollegen im Europaparlament für einen sensationellen Umbruch. Für Atomkraftgegner in Schweden, den Niederlanden oder Frankreich ist die deutsche Entscheidung nicht mit Gold aufzuwiegen: sie setzen damit ihre Regierungen unter Druck. Ein Nein der Grünen zum eigenen Erfolg würde dort niemand verstehen. In Deutschland braucht dieser Ausstieg aber auch eine breite politische Mehrheit, die erschwert, die Einigung wieder aufzuschnüren. Das Erreichte muss gegen die Atomindustrie verteidigt werden. Lasst uns jetzt den Erfolg besiegeln und für die noch offenen Ziele gemeinsam streiten. Eine neue Spaltung zwischen Grünen und Anti-Atom-Bewegung an die Wand zu malen, halte ich für verantwortungslos. Die Breite des Protestes hat Merkel auf einen neuen Kurs gezwungen. Wir brauchen keine Verräterdebatte, sondern einen gemeinsamen Plan, wie wir den Streit um die bisher verantwortungslose Atommüllstrategie gewinnen und das ungeeignete Endlager Gorleben verhindern können.

Johannes Remmel, 49, Grüne, Umweltminister von Nordrhein-Westfalen

Dreißig Jahre grüner Kampf – und (fast) am Ziel. Das Ende des Atomzeitalters rückt in greifbare Nähe. Das zerreißt vielleicht die atomaren Wendehälse Merkel, Rösler und Co, aber uns Grüne doch nicht! Der Atomausstieg ist unser Ausstieg, dem sollte man zustimmen. Zugegeben, der konkrete Atomausstieg – Ende 2022 – ist bei weitem keine Punktlandung nach unseren Vorstellungen, aber er ist endgültig und ein gesellschaftlicher und politischer Kompromiss. In allen anderen wichtigen Fragen und Gesetzgebungsvorgaben werden wir über den Bundesrat noch einmal alles versuchen – und nach dem Regierungswechsel 2013 gründlich und umfassend nacharbeiten. Aber der Anfang eines Anfangs ist gemacht! Aufgabe der Grünen in den nächsten dreißig Jahren ist es, die Energiewende voranzutreiben. Denn wir Grüne sind die Garanten eines neuen Energiezeitalters – wer denn sonst?

Peter Wallenstein, 44, Software-Entwickler aus Münster und Leser von taz.de

In Berlin – bei den Grünen und im Bundestag – geht es darum, Mehrheiten für einen Zukunftsplan zu organisieren. Mehrheiten im Parlament und Mehrheiten in der Bevölkerung. Die Straße ist keine parlamentarische Mehrheit. Die Aufregung der Anti-AKW-Bewegung um den Vorschlag der Grünen-Parteiführung ist daher nicht nachvollziehbar. Die Mehrheit für den Ausstieg steht ohne die Grünen. Die gefühlten zwanzig Prozent in den Umfragen werden zusammenschnurren – der Anti-AKW-Bewegung sei Dank! Es wird also nie eine parlamentarische Mehrheit für einen schnelleren Weg aus der Atomenergie geben. Merkel weiß das, Gabriel weiß das, Trittin weiß das – nur die Bewegung spielt ihr Glasperlenspiel vor einem sich mit Grausen abwendenden Publikum.

Nina Hagen, 56, ist Sängerin. Sie rockte und protestierte schon häufig gegen Atomkraft

Fakt ist, die Grünen habe ich bei der letzten Bundestagswahl hoffnungsfroh unterstützt und mich schwer gewundert, dass sie nicht annähernd die Stimmzahl erreichten, die sie bei der größten Wahlumfrage Deutschlands, am Vortag bei TV Total, bekamen, daher halte ich die elektronische Wahlauswertung für manipulierbar, und bevor es nicht wieder Handzettel-Auszählungen und transparente Wahlsysteme gibt, werde ich mich aus jeglichen tagespolitischen Atomausstiegs-Streitereien der Parteien raushalten. Ich werde mich mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei Bündnis 90/Die Grünen treffen und mit allen Kräften versuchen, den Atomausstieg voranzutreiben! Die Hoffnung stirbt zuletzt.