Schrullige Performer, lebendige Dinge

FESTIVAL Die Poesie des Banalen entdecken: In Hannover ballen sich die Theaterformen

Liebesmythos und Kolonialgeschichte – alles wird zur Disposition gestellt

Im Bauch des „Ship o’Fools“, einer chinesischen Dschunke, geht es hoch her. Eine Geige fiedelt, Klöppel schlagen gegen Kochtöpfe. Auf engstem Raum haben Janet Cardiff und George Bures Miller ein wunderliches Arsenal eingerichtet: In Schaukästen hängen Wurzelknäuel und liegen Erdkrumen. In einer Wasserflasche wird ein Strudel erzeugt, dazu hämmert das Bordschlagzeug. Hier wird das Alltägliche gerahmt, ausgeleuchtet und belebt, das, über das der Blick sonst hinwegschweift: Ein altes Radio rauscht, ein Mülleimer klappt auf, eine Dose wackelt.

Diese Poesie des Banalen ist Teil des Festivals Theaterformen in Hannover. Die ersten Inszenierungen am vergangenen Wochenende reisten an besondere Orte und brachten ungewohnte Ästhetiken auf die Bühne. Denn das internationale Festival, das seit 2009 von Anja Dirks geleitet wird, will zum zweiten Blick verführen und in urbane Randzonen locken. Meistens klappt das auch sehr gut.

Eine Liebe für das Eigenleben der Dinge pflegt auch der französische Regisseur Philippe Quesne. In seinen Inszenierungen mit der Compagnie Vivarium Studio sind schrullige Performer damit beschäftigt, mit höchster Konzentration und kindlicher Vorfreude Spezialeffekte zu basteln. Die Zuschauer sind gern bereit, die unspektakulären Ereignisse mit zu bestaunen, Nebelwolken und Wasserfälle beispielsweise.

Umso konsequenter klang seine neue Inszenierung für die Techniker des Schauspiels Hannover, „Pièce pour la technique du Schauspiel de Hanovre“. Doch leider ist sie es nicht. Denn während knapp 20 Bühnentechniker ihre Weihnachtsfeier aufbauen, Birkenwälder und Flipperautomaten arrangieren, lassen sie die stoische Darstellerhaltung vermissen, die das Einfache erst zur Entdeckung macht: die hingebungsvolle Befähigung zur Langsamkeit. Vielmehr lässt Quesne sie als gesichtslose Masse über die Bühne wuseln oder unbeholfen schauspielern. So verläppert sich die charmante Ausgangsidee in einer Choreografie des Durchwurschtelns.

Nicht nur von den Theateransätzen her, auch lokal dringt das Festival in die Randzonen vor, gleich zwei Projekte ziehen in die hannoverische Peripherie: Die italienische Künstlerin Anna Rispoli verleiht in „L’Invenzione dell’Ascensore“ einem verlassenen Gebäude eine Stimme, dem Holländischen Pavillon der Expo 2000. Bei der Weltausstellung wurde er enthusiastisch als ökologisches und architektonisches Lebensmodell der Zukunft gefeiert. Elf Jahre später verfällt die Sensation. Gemeinsam mit den Hannoveraner Künstlern Lotte Lindner und Till Steinbrenner inszeniert Rispoli einen Audiospaziergang durch das Gebäude, in dem der 40 Meter hohe Turm selbst seine Geschichte erzählt, sich als Arche anbietet und ironisch seine Umgebung beleuchtet. Urbane Raumnutzung, zeigt sich hier, geht weit über die Fantasie der Städteplaner hinaus – auch eine tröstliche Utopie.

Eine Kaserne im Norden der Stadt war dagegen wohl nie ein Sehnsuchtsort. Heute glotzt sie mit leeren Fensterhöhlen und verbrannten Dachstühlen in wucherndes Grün. Hier zeigt der südafrikanische Theatermacher Brett Bailey „Orfeus“, seine Variation des griechischen Mythos, versetzt mit afrikanischem Ritus und aktuellen Zitaten. Vor der Folie der afrikanischen Kultur gestern und heute soll der Künstler- und Liebesmythos ausgeleuchtet und mit ihm ein Stück Kolonialgeschichte zur Disposition gestellt werden. Dabei bewegt sich Baileys Inszenierung lange virtuos auf der Schwelle zum Kitsch, zum Überdeutlichen, um sie dann doch zu überschreiten.

Aus anderem Holz ist da Béla Pintérs „Miststück“ geschnitzt. In einer kargen, ins Groteske überzeichneten Inszenierung zeigt der ungarische Autor, Schauspieler und Regisseur parabelhaft, wie schnell eine scheinbar funktionierende Sozialstruktur aus den Fugen geraten kann: Es braucht nur zwei Störfaktoren, zwei pubertierende Rotznasen – die eine entstellt, die andere Roma –, um ein ungarisches Dorf zu spalten. Aus scheinbar sorgenden Mitmenschen werden froststarre Egoisten, die mit ungeheurer Zerstörungswut nur auf ihren eigenen Vorteil schielen. Jeder ist sich selbst der Nächste, und das Andere muss sich entweder integrieren oder vernichtet werden – diese bitterböse Diagnose trifft nicht nur auf den Rechtsruck Ungarns zu, vielmehr wirken diese Gefühlsverkommenen furchtbar bekannt.

Das eben ist die Stärke der Streifzüge, die das Festival Theaterformen miteinander verbindet: Sie gelten der Erkundung des Eigenen ebenso wie einem Blick auf die politische Landkarte.

ESTHER BOLDT