Zu viel von der Welt gesehen

DOKU Schwer erziehbar, schwere Körperverletzung, schwere Kindheit – Wolfram Seeger porträtiert vier Jugendliche „Im Heim“ (WDR, 23.15 Uhr) und sucht nach Ursachen

Nico sammelte schon mit elf Anzeigen wegen Diebstahl und Körperverletzung, Robin würgte seinen Vater, Marco kam als Dreijähriger ins Heim

VON MAX BÜCH

„Ich bin wie ein Glas. Ich bin ganz und irgendwann zerspringe ich.“ Vier Gesichter hat Wolfram Seeger (Regie, Kamera, Schnitt) an den Anfang seines Films gestellt, von Robin, Marco, Julien und Nico. Sie sitzen da und schauen stumm in die Kamera und man fragt sich, was sie wohl denken, was Seeger sie gefragt hat, bevor er sie in die Kamera hat blicken lassen und was man in ihren Gesichtern lesen kann? Wut, Kälte, Härte oder eher Nachdenklichkeit, Unsicherheit, Zielstrebigkeit? So unterschiedlich sie auch sind, das eine Ziel haben alle vor Augen: zurück nach Hause.

„Im Heim“ wirft mit der Kamera für einige Tage einen Blick hinter die Fassade eines Erziehungsheims in der Nähe von Köln und versucht zu erfahren, warum die Kinder so sind, wie sie sind, und vor allem, wer diese Kinder sind. Interviews mit den vier Protagonisten, mit ihren Müttern, mit den Erziehern, der Köchin, dem Heimleiter, vermengt mit Szenen aus dem Alltag. Putzen der Gänge, Essen vorbereiten, Fußball, den ewigen Sticheleien und Streitereien untereinander, den ewigen Macht- und Hierarchiekämpfen und den Schlichtungen der Erzieher.

Schwer erziehbare Jugendliche, schwere Körperverletzung und vor allem eine schwere Kindheit. Nico hatte mit elf Jahren bereits mehrere Anzeigen am Hals. „Wenn du nicht aufhörst, kommst du ins Heim, um Manieren zu lernen“, habe seine Mutter immer gesagt und ihre Drohung schlussendlich wirklich wahrgemacht. Robin musste ins Heim, weil sein Vater seine Mutter geschlagen hat, wie er sagt. „Ich hätte den ja fast umgebracht.“ Gewürgt habe er ihn, bis ihm die Kraft ausgegangen sei. Marco ist mit drei Jahren ins Heim gekommen.

Recht schnell löst sich die vage Ahnung in Klarheit auf, was in den Gesichtern dieser Jugendlichen so wenig greifbar erschien. Eine Ernsthaftigkeit, eine Lebenserfahrung, die man von einem 13-Jährigen schlicht nicht gewöhnt ist. Blicke von Jugendlichen, die für ihr Alter schon zu viel von der Welt gesehen haben

Wie kann es so weit kommen, dass ein dreijähriges Kind in ein Heim kommt? So sehr man sich auch wünscht, zumindest einen Schuldigen benennen zu können, schlägt der Versuch doch fast immer fehl. Natürlich ist der Vater von Robin die Ursache für dessen Gewaltausbrüche, aber was hat wiederum der Vater wohl in seiner Kindheit erlebt? Natürlich ist es fataler Leichtsinn von Nicos Mutter, nicht zu kapieren, dass es ihre Aufgabe gewesen wäre, ihrem Sohn Manieren beizubringen. Aber wenn man die Verzweiflung in den Gesichtern der einzelnen Mütter sieht, deren Hilflosigkeit und Trauer über das Vergangene, lässt sich nur schwer ein Urteil fällen.

Andererseits zeigt das simple Statement der Heimköchin, dass es durchaus möglich ist, mit Kindern umzugehen und sich Autorität zu verschaffen: „Die wissen genau, was sie dürfen und was sie nicht dürfen.“

Wolfram Seeger steht mit der Kamera im Gang, auf dem Fußballplatz, in der Küche, filmt mit, ist immer präsent. Er setzt sich mit den Jugendlichen zusammen, redet mit ihnen, stellt die Fragen aus dem Off. Technisch gesehen keine Meisterleistung, überwiegen dadurch aber die inhaltlichen Vorteile. Allem voran aber zeigt der Film, wie liebenswert jeder Einzelne von diesen sogenannten „Härtefällen“ wird, wenn man ihnen ein wenig Zeit widmet. „An mir gibt es auch noch Sachen, die ich verbessern muss“, meint Julien. Robin: „Bei wem gibt’s das nicht?“