Die Eroberung der Bühne

Wenn „Behinderte“ Theater machen, wird dabei oft kein künstlerischer Anspruch formuliert. Beim Bremer „Blaumeier“-Atelier ist das anders: Für die Uraufführung seiner Eigenproduktion „Suite Elisabeth“ kaperte die integrative Truppe das Bremer Schauspielhaus am Goetheplatz

von Henning Bleyl

Es ist bereits das vierte Mal, dass Bremens Generalintendant Klaus Pierwoß sein Haus für ganze Staffeln von „Blaumeier“-Produktionen öffnet. Also für Stücke von und mit als „behindert“ oder psychisch „krank“ eingestuften Menschen. Jetzt hat er die Blaumeier’sche Theaterkatze sogar im Sack gekauft: Das ist ein bemerkenswerter künstlerischer Vertrauensvorschuss. Der allerdings auf guten Erfahrungen basiert: Als am Goetheplatz die Blaumeier’sche „Carmen“-Version zeitgleich mit der hauseigenen „Carmen“ lief, musste sich die integrative Truppe bei der Abstimmung an der Theaterkasse nicht verstecken. Blaumeier war durchweg ausverkauft.

Das Atelier ist erprobt in der Umsetzung literarischer beziehungsweise musikalischer Hochkaräter wie „Faust“ oder eben „Carmen“, aber auch die Entwicklung eigener Stücke ist ein fester künstlerischer Strang. Der geht diesmal so: Hoteldirektor Schnittenhuber (Walter Pohl) mag Weibliches besonders gern in Elisabeth-Gestalt, deswegen hat er gleich fünf prominente Namensträgerinnen zum 800. Geburtstag der Heiligen eingeladen. Schon im Foyer geht es los: Kostümiertes Hotelpersonal wirbelt durchs Premierenvolk, distinguierte Herren müssen Wäsche falten und beim Staubwedeln helfen – das Blaumeier-Atelier pflegt sein Publikum dort abzuholen, wo es bisher noch nicht war. Das gilt natürlich insbesondere in puncto Sehgewohnheiten: Frank Grabski, einem breiteren Publikum durch seine Rolle im Roadmovie „Verrückt nach Paris“ bekannt, ist in „Suite Elisabeth“ zum ersten Mal auf zwei Beinen zu erleben. Der Mann mit der kleinen Hand macht als Kaiser Franz eine imposante Figur, die von seiner ebenso schmollippigen wie bewegungslustigen Sissi (Denise Stehmeier) freilich stante pede konterkariert wird.

Das Regieduo Imke Burma und Barbara Weste nimmt die teilweise psychiatrierfahrenen und gehandicapten AkteurInnen als Charakterdarsteller ernst. Das ist nicht komplett neu, aber doch eine bemerkenswerte Weiterentwicklung der Blaumeier’schen Theaterästhetik: Frühere Großproduktionen lebten von opulenten Settings, effektvoll eingesetzten Masken, manchmal auch, wie bei der großräumigen Bespielung des Bremer Bürgerparks, von geschickt gemachten Massenchoreografien. Jetzt aber gibt es ganze Sequenzen, die lediglich von den Dialogen zweier AkteurInnen getragen werden. Oder nur von einer Akteurin: Elisabeth und das Marmeladenglas beispielsweise ist eine theatrale Miniatur, die das große Haus mühelos füllt. Im mimischen Dialog mit Gott kämpft die Heilige (Viktoria Tesar) mit der Sünde der Naschhaftigkeit.

Natürlich geht Blaumeier mit dieser kammertheatralen Spielrichtung Risiken ein: Wer die Bühne lange für sich hat, produziert mitunter Längen, auch die Reihung etlicher Paarsequenzen hätte dramaturgisch anders gelöst werden können. Trotzdem hat das Ganze keineswegs den Charakter einer Nummernrevue. Eher ist man an einen dieser Musikfilme aus den 50er und 60er Jahren erinnert, in denen die DarstellerInnen plötzlich zu singen beginnen. Wenn Melanie Socher alias Liz Taylor, im durchwühlten Hotelbett stehend, ihr „Ich kriege Geschenke, man gibt mir Präsente, ich krieg’ Diamanten von ganz Unbekannten“ anstimmt, durchstößt sie mühelos die Decke zur Divenseligkeit der Schwarz-Weiß-Ära.

An diesen musikalischen Verwandlungen hat das Bremer Kaffeehaus-Orchester entscheidenden Anteil: Von seinem im Tresen integrierten Keyboard aus hat Pianist Johannes Grundhoff die Szene im Griff. Wolfgang Göttsch wiederum erweist sich als geborener Papst: Er hält seine Heilige auf Trab, auch Michal Riesen, der dem Direktor als crazy detective zur Seite steht, sorgt für genuinen Slapstick. Außerdem ist beeindruckend, mit welcher Bühnenpräsenz Melanie Socher als Liz agiert – in steter Auseinandersetzung mit Gatte Richard Burton, laut Rollenscript „löwenhaft entspannt, schläft notfalls mit Schuhen, riecht sich gern“. Eine Vorgabe, die Aladdin Detlefsen mühelos umsetzt.

„Carmen“ wurde zu den „Dresdner Musikfestspielen“ eingeladen, auch mit „Elisabeth“ wird das Blaumeier-Atelier wieder auf Tour gehen: Marburg ist als Heimatstadt der Heiligen Pflichtstation, auch Berlin und Mainz stehen auf dem Plan. Linz, auf dem Weg zur „Kulturhauptstadt Europas 2009“, hat die Produktion in sein „sicht:weisen“-Festival integriert. Der logistische Aufwand dieser Gastspiele ist immens – gleichzeitig stellt er die konsequenteste Umsetzung des Plans dar, sich mit seiner Kunst zu zeigen: Nischen zu verlassen und sowohl etablierte Musentempel als auch überraschende Orte künstlerisch zu erobern.

Die nächsten Termine: 7. 6., 9. 6. und 10. 6. im Bremer Schauspielhaus. Kartentelefon: (0421) 36 53 333. Die Aufführung am 10. 6. wird live von zwei GebärdendolmetscherInnen übersetzt.