Der größte Konkurrent

UNTERHALTUNGSINDUSTRIE Eine opulente Songsammlung behauptet, dass Calypso-Musik Mitte der fünfziger Jahre um ein Haar den gerade erblühenden Rock ’n’ Roll verdrängt hätte. Karibik-Sounds statt jugendlicher Renitenz – die Folgen wären gewaltig gewesen, weltweit

VON DETLEF DIEDERICHSEN

Ohne rechten Anlass wird die Öffentlichkeit seit einiger Zeit üppig beschenkt mit Calypso-Compilations. Das Londoner Hipster-Label Honest Jon’s legte vor mit der Serie „London Is The Place For Me“, die mittlerweile bei der sechsten Folge angekommen ist. Jetzt sind die Reissue-Spezialisten von Bear Family am Zug: „Calypso Craze 1956–57 and beyond “ heißt die opulente neue Veröffentlichung, eine Box – wie immer bei Bear Family im LP-Format – mit sechs CDs, einer DVD und einem 180-seitigen, reich bebilderten Buch.

„Calypso Craze“ hat eine spitze These und behauptet, dass um ein Haar Calypso in den USA den gerade erblühenden Rock ’n’ Roll verdrängt hätte – mit gar nicht abzuschätzenden Folgen für die Welt von heute.

Calypso ist um die Jahrhundertwende entstanden und war also in den fünfziger Jahren kein feuriger Teenager mehr, sondern hatte schon etliche Krisen und Generationswechsel hinter sich gebracht. Auch in den USA war das Genre schon wohl bekannt: Die Musikindustrie hatte früh sein kommerzielles Potenzial erkannt und bereits in den 1910er Jahren erste Studioaufnahmen produziert. Seit den zwanziger Jahren versuchten viele Calypso-Künstler ihr Glück in der US-Clubszene, mit unterschiedlichem Erfolg.

Auftritt Harry Belafonte

Zu Beginn der fünfziger Jahre schwappte die Folkwelle über die USA, einerseits als Reaktion auf den zunehmend slick und unwirklich gewordenen Radiopop, andererseits als Versuch, einen Kontakt zu den eigenen Wurzeln herzustellen, etwa über die als über die Maßen fremd und wundersam empfundenen, dabei gerade mal zwei oder drei Jahrzehnte alten Aufnahmen von Harry Smith’ „Anthology of American Folk Music“.

Der dabei entstehende Kanon umarmte gleich auch, völlig unreflektiert, internationales Liedgut: mexikanische Boleros, britische Mörderballaden, japanische Schnulzen oder eben karibisches Calypso-, Mento- und Goombay-Material. Auftritt: Harry Belafonte.

Belafonte wurde als Sohn einer jamaikanischen Mutter und eines Vaters aus Martinique in New York geboren. Er verbrachte dort auch den Großteil seiner Kindheit und Jugend, war aber auch oft bei der Familie seiner Mutter auf Jamaika und ging dort sogar eine Zeit lang zur Schule. Seine erste Ambition war die Schauspielerei, und er studierte an der New School for Social Design an der Seite von Marlon Brando, Walter Matthau und Sidney Poitier. Ein weiterer Mitschüler, der Clubbetreiber Monte Kay, überredete ihn, sich mal als Sänger in der New Yorker Jazzszene zu versuchen.

Gleich bei seinem ersten Auftritt stand er mit Miles Davis, Max Roach und Charlie Parker auf der Bühne, schnell hatte er sich einen gewissen Ruf als Pop-Jazz-Crooner im Stile Billy Eckstines erarbeitet. Er stellte jedoch bald fest, dass ihn die aufstrebende Folkszene mehr interessierte als die Jazzclubs und der Broadway: „Als ich Leute wie Josh White, Pete Seeger und Leadbelly sah, war ich absolut fasziniert. Ihre Songs waren ganz anders als das Material vom Broadway, aus dem Brill Building und der Tin Pan Alley. Ich fand Menschlichkeit in diesen Liedern, und ich sah einen Platz für mich in dieser Welt.“ Belafonte merkte schnell, dass sein Publikum vor allem auf karibisches Material positiv reagierte – weshalb er den Anteil britischer Mörderballaden zunehmend zurückfuhr. Stattdessen fügte er den im Folkkanon ohnehin gängigen Songs wie „Man Smart (Woman Smarter)“, „Hold ’Em Joe“ oder „Matilda“ Lieder hinzu, die er auf Jamaika oder durch die Verwandtschaft kennen gelernt hatte.

Dieses Repertoire brachte ihm schließlich eine Verpflichtung für das „Holiday in Trinidad“-Segment der Fernsehshow „Colgate Comedy Hour“ ein. Weitere Songs lieferte der ebenfalls mit karibischen Wurzeln in New York geborene Sänger und Songschreiber Irving Burgie alias Lord Burgess, darunter den „Banana Boat Song“. Belafonte überzeugte schließlich sein Label RCA, eine Auswahl seiner karibischen Titel als Album zu veröffentlichen. Es erschien 1956 unter dem Titel „Calypso“ – obwohl es vorwiegend Mento- und karibische Folksongs enthielt. Laut Belafonte bestand RCA auf dem Albumtitel.

Die Platte rauschte in kürzester Zeit bis an die Spitze der Billboard-Pop-Charts, wo sie sich zunächst elf Wochen am Stück halten konnte (und wohin sie, nachdem sie von Elvis Presleys „Elvis“ verdrängt worden war, später zurückkehrte). Es wurde die erste Langspielplatte, die sich mehr als eine Million Mal verkaufte. Und es bedeutete für Belafonte nicht nur den Start zu einer Weltkarriere, sondern auch eine fortdauernde Assoziation mit dem Calypso-Genre – obwohl ihm natürlich klar war, dass „Calypso“ eigentlich kein Calypso war, woraus er auch nie ein Geheimnis machte.

Doch für eine Weile war der Begriff Calypso – was auch immer sich dahinter verbarg – ein Türöffner innerhalb der US-Unterhaltungsindustrie. Das trachtete eine unselige Allianz aus Elternfunktionären, Kirchenoberen und Politikern auszunutzen, um ihn als Waffe gegen den Rock ’n’ Roll in Stellung zu bringen, weil sie fürchteten, „dass diese degenerierte ‚Negermusik‘ die Moral der rotwangigen Vorstadtjugendlichen zersetzen würde“, wie Ray Funk und Michael Eldridge im Buch zu „Calypso Craze“ schreiben.

Eine tatsächliche „Negermusik“ wurde also in Stellung gebracht, um eine weiße „Negermusik“ zu bekämpfen – in letzterem drohte eine neue, existenzielle Gefahr. Lustigen dunkelhäutigen Entertainern zu applaudieren, daran hatte sich Amerika gewöhnt. Calypso war das kleinere Übel.

Damit man die Geschichte des kurzlebigen Calypso-Hypes der Mittfünfziger, seine Ursachen und sein Scheitern versteht, holen Funk und Eldridge weit aus. Die erste CD zeigt, wo Calypso zu jener Zeit stand, mit Aufnahmen der größten Stars der Zeit, etwa Duke of Iron, Lord Invader und Sir Lancelot, aber auch ersten Calypso-Versuchen von US-Entertainmentgrößen wie Louis Jordan, den Andrews Sisters und sogar dem Westcoast-Jazz-Neutöner Stan Kenton.

Bereitwillig exotisch

CD zwei ist exklusiv Harry Belafonte gewidmet, mit karibisch beeinflussten Aufnahmen von 1952 bis 1971. CD drei und vier porträtieren die Craze auf ihrem Höhepunkt mit Aufnahmen u. a. von Fred Astaire, Louis Armstrong und Country-Crooner Hank Snow. CD fünf und sechs blicken schließlich auf den Rest der Welt und enden in Europa inklusive Deutschland („Mama Look A Boo Boo“ als „Mama ist aus Kuba“). Die DVD schließlich enthält den haarsträubenden Film „Calypso Joe“ von 1957, der immerhin die einzigen bekannten Bewegtbilder des Duke of Iron enthält, sowie einige kürzere Calypso-TV-Clips.

Der Backlash setzte ein, als sich langsam zeigte, dass sich außer den Belafonte-Alben Calypso-Platten in den USA nie überdurchschnittlich verkauften – gerade das Originalmaterial aus Trinidad blieb eine Sache für Gourmets und Eingeweihte. Die für den weißen Tonträgermarkt aufbereitete Version, die Calypso auf ulkige Schwarze mit zweideutigen Witzchen reduzierte, hatte nicht mehr Substanz als für einen Sommer.

Aber auch Belafontes Performances sind heute schwer erträglich – gerade im direkten Vergleich mit Kanonen wie Kitchener und Duke of Iron. Zu bereitwillig bedient er den Exotismus und die Karibikklischees in den Köpfen des US-Publikums, zu dramatisch ist sein Vortrag, zu geschult croont sein Belcanto im Sinne abendländischer Wohlklangvorstellungen, zu unambitioniert sind die Arrangements, die die Songs lediglich weitest möglich in Richtung Radio-Mainstream zu rücken trachten.

Gerade aber weil diese Sammlung keine Angst hat, auch die traurigen Stellen der Geschichte zu erzählen, zeigt sie, in welcher Nische im Zeitalter von Kindles und mp3 physische Produkte noch eine Überlegenheit gegenüber rein digitalen Medien und also eine Daseinsberechtigung haben: In ihrer komplexen Hybridität und multimedialen Interdependenz gelingt es ihr, nicht nur eine Story multiperspektivisch zu erzählen, sondern eine These aufzustellen und zu belegen.

Derzeit gibt es kein anderes Medium, das das annähernd so schlüssig hinbekommt.

■ Various Artists: „Calypso Craze 1956–57 and beyond“ (Bear Family) 6 CDs, 1 DVD, 180-seitiges Buch