Wer ist Deutschland?

Eigentlich wollte sich unser Autor mit Wolfgang Schäuble über die deutsche Identität unterhalten. Der Innenminister aber war im Geiste schon anderswo und erzählte ihm „die Wahrheit von Rostock“

von WLADIMIR KAMINER

Als ich vor drei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit samt Personalausweis errang – zusammen mit meiner Frau und den Kindern –, bekamen wir mehrere Merkblätter mit auf den Weg, deren Empfang wir quittieren mussten. Das erste Merkblatt hieß „über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit“. Warum sollen wir sie verlieren, wenn wir sie doch gerade erst bekommen haben?, wunderte ich mich. Weil in Deutschland keine doppelte Staatsangehörigkeit geduldet wird. Meine Frau und ich, wir sind aus der Sowjetunion nach Deutschland ausgewandert.

Unsere sowjetischen Pässe wurden uns noch von der letzten DDR-Regierung, die uns aufgenommen hatte, entzogen. Wir haben seitdem zwar nie wieder einen russischen Pass angestrebt, waren aber juristisch gesehen nach unserem Herkunftsland russische Bürger geblieben. Deswegen mussten wir, um in Deutschland eingebürgert zu werden, einen Austritt aus der russischen Staatsangehörigkeit beantragen, die wir gar nicht mehr besaßen. Die Botschaft der Russischen Föderation sagt den Betroffenen in solchen Fällen, sie sollen „nach Hause fahren“ und sich dort an das russische Innenministerium wenden.

Diejenigen, die hier als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, können sich die Mühe sparen, einen Nachweis ihrer Staatenlosigkeit zu erbringen. Sie werden als Staatenlose behandelt und können in Deutschland nach Erfüllung einiger anderer notwendiger Kriterien eingebürgert werden. Dazu bekommen sie das Merkblatt „über den Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit“. Wenn sie im Ausland jemals in Schwierigkeiten geraten, sollten sie sich nicht an die deutschen Behörden wenden, sondern an die ihres ursprünglichen Heimatlandes. Sie müssen unterschreiben: „Wenn mir mein Recht auf Wiederausreise verwehrt wird, sind die deutschen Auslandsvertretungen nicht in der Lage, wirksamen deutschen Rechtsschutz zu leisten …“, sie werden also gleich am ersten Tag als Bürger 2. Klasse abgetan, die nicht einmal mit dem deutschen Rechtsschutz im Ausland rechnen dürfen.

Als deutscher Bürger schäme ich mich ein wenig für diese Gesetzgebung, die jedes Maß an krümelkackerischer Bürokratie und rücksichtsloser Unmenschlichkeit übersteigt. Letzte Woche musste ich dann wieder hin. Mein Vater wurde eingebürgert. Nachdem er 15 Jahre in Deutschland und Europa mit einem blauen „Alienpass“ für Staatenlose gelebt hatte, einem Pass, auf den die Grenzbeamten aller Länder wie Fliegen auf Scheiße reagieren, beschloss mein Vater, sich mit 74 Jahren einbürgern zu lassen. Weil er behindert ist, musste ich ihm bei diesem Abenteuer helfen. Die Einbürgerung verlief schnell und unbürokratisch und kostete ungefähr 400 Euro.

Der neuerliche Besuch der Einbürgerungsstelle hat mich zum Verfassen dieses Textes bewegt. Die Sache war nämlich: In ein paar Tagen musste ich mich mit dem Innenminister zu einem Gespräch zum Thema „Wer ist Deutschland“ treffen, organisiert von einer christlichen Zeitschrift. Ich dachte, wenn ich ihm diese Geschichte erzähle, wird er wahrscheinlich lächeln und sagen: „Wir leben in einer Demokratie. Es gibt hier eine Verfassung, jede Menge Gesetze, und diese Gesetze sind doch nicht von bösen Menschen ausgedacht, um den guten das Leben zu erschweren! Diese Gesetze sind Deutschland, in ihnen wurde der Wille des Volkes formuliert. Auch wenn sie nicht immer an der richtigen Stelle greifen, ist es noch lange kein Grund zu meckern, und wenn es dir nicht gefällt, mein Junge, geh doch nach Russland. Da handhabt es Putin bestimmt besser, haha.“ Vielleicht aber wird er ganz was anderes sagen, aus diesen Politikern werde ich nie schlau.

Das Innenministerium erinnerte stark an das Staatsangehörigkeitsamt, Bezirksamt oder Arbeitsamt. Irgendwie sind alle Ämter in Deutschland gleich, lange Korridore, merkwürdige abstrakte Malerei an den Wänden und Türen mit Schildchen bis an den Horizont. Wir gingen einen nicht enden wollenden Korridor entlang, auf der Suche nach dem Büro des Ministers, an einem Schild stand bescheiden „Schäuble“.

Der Minister konnte mit dem Thema „Wer ist Deutschland“ nicht viel anfangen, er war im Geiste ganz in Rostock.

„Was wäre, wenn die Polizei nicht vor den Demonstranten stünde? Dann hätten die Gewaltbereiten keinen Feind mehr. Wohin würden sie dann ihre Steine schmeißen?“, fragte ich den Minister: „Die jungen Leute üben Kapitalismuskritik, sie werden doch nicht plündern“ – „Plündern ist auch Kapitalismuskritik“, erwiderte Schäuble. „Hören Sie zu, ich erzähle Ihnen die Wahrheit von Rostock. Die Polizei war nämlich anfangs sehr zurückhaltend, die Demonstranten zogen an einem Fünfsternehotel vorbei, da flogen die ersten Steine. Heute ist jede Straße in Deutschland ein Hort der Globalisierung, überall finden sie Banken, Sparkassen, Hotels“ – „Am schlimmsten sind die Ämter!“, mischte ich mich ein, blieb aber unverstanden.