Ein bisschen Wilder Westen

LEBEN UND STERBEN IN CIUDAD JUÁREZ Immer wieder profitierte die Stadt von der nahen Grenze. Doch in der Finanzkrise gingen 160.000 Jobs verloren

VON TONI KEPPELER
(TEXT) UND TEUN VOETEN (FOTOS)

Die erste zollfreie Produktionszone wurde bereits 1967 auf der 333 Hektar großen Halbinsel Chamizal im Río Grande eingerichtet. Mexiko stellte das Land und die billigen Arbeitskräfte, die Firmen aus dem Norden nahmen die Gewinne mit. So funktioniert das bis heute.

Damals war Ciudad Juárez so, wie sein Zentrum heute noch ist. Immer wieder hatte die Stadt von der Grenze profitiert, vor allem während der Prohibition in den USA. Alkoholschmuggler aus dem Norden konnten den Schnaps in Hektolitern gleich hinter der Grenzbrücke in der Avenida Benito Juárez einkaufen. In einer Bar soll dort damals das Tequila-Mixgetränk Margarita erfunden worden sein. Der Schmuggel brachte zwar auch die eine oder andere Schießerei mit sich, aber alles in einem erträglichen Rahmen. Ein bisschen Wilder Westen eben.

Auch als Krankenstation der USA war die Stadt bis vor kurzem beliebt. Behandlungen und Medikamente kosten hier nur einen Bruchteil dessen, was Ärzte jenseits der Grenze auf die Rechnung schreiben. In den Außenvierteln von Ciudad Juárez entstanden ganze Stadtteile voller Arztpraxen und Privatkliniken. In El Paso boten Tourismusunternehmen Tagesausflüge mit historischen Bimmelbahnen über die Grenze an, mit Halt an den paar Sehenswürdigkeiten, an einer Lederfabrik für Cowboy-Accessoires und an der billigsten und größten Apotheke. In besseren Restaurants hängen noch heute Schilder in englischer Sprache: „Das Tragen von Schuhen und Hemden ist erwünscht!“ Man kann sich vorstellen, wie sich manche Gringos in der Wüstenhitze benahmen.

Der Boom

Zur Boomtown aber wurde Ciudad Juárez erst 1994, mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen. Draußen in der Wüste entstanden innerhalb weniger Jahre riesige neue Maquiladora-Zonen und noch weiter draußen Wohnviertel für die Arbeiter. Billige Massenware, die Häuschen oft nicht einmal 30 Quadratmeter groß, eins ans andere geklebt. Und weil der Wohnungsbau mit der Entwicklung der Industrie nicht mithalten konnte, entstanden um diese Arbeiterviertel herum Slums mit Hütten aus Holz, Wellblech und Pappe. Kein Park wurde in diesen sozialen Wüsten geplant, kein Fußballplatz, nicht einmal ein Einkaufszentrum. Die einzige Anbindung der neuen Stadtteile war oft nur der Bus ins Industriegebiet.

Arbeitskräfte gab es genug. Die kamen aus dem Süden Mexikos. Seit mit dem Freihandelsvertrag die Zollschranken gefallen waren, wurde die kleinbäuerliche Landwirtschaft Opfer billiger Maisimporte aus den USA. Die Einwohnerzahl von Ciudad Juárez hat sich seither verdoppelt.

In den Fabriken von Ciudad Juárez war weibliche Arbeitskraft weitaus mehr gefragt als männliche. Frauen gelten als zuverlässiger, fleißiger und geschickter für die einfachen Näh- und Montagearbeiten. Die Männer der einwandernden Familien blieben oft ohne Job.

In diesen Jahren begann die Serie von Frauenmorden. Was nicht heißen soll, dass frustrierte arbeitslose Machos es waren, die junge Fabrikarbeiterinnen entführten, vergewaltigten, folterten und zerstückelten. Die Morde sind bis heute nicht aufgeklärt und gehen weiter.

In vielen dieser Industrieparks ist es heute still. Neue, meist strahlend weiß gestrichene Hallen, breite Straßen – menschenleer. Allenfalls ein einsamer privater Wachmann mit Hund. Seit dem Beginn der weltweiten Finanzkrise hat Ciudad Juárez mehr als 160.000 Arbeitsplätze verloren. In den USA brach der Markt für die hier hergestellten Produkte ein, die Unternehmen gingen genauso schnell, wie sie gekommen waren. Und jetzt, da sich die Wirtschaft im Norden langsam erholt, kommen sie trotzdem nicht zurück. Sie fürchten die hohen Kosten für die Sicherheit und vor allem fürchten sie Entführungen und Erpressung. „Das ist ein großes Problem“, sagt Alejandro Seade, der Vorsitzende der Handelskammer von Ciudad Juárez. „Viele haben geschlossen, und wer das noch nicht getan hat, traut sich nicht, zu werben.“ Es trifft nicht nur die großen, es trifft auch die ganz kleinen: 90 Prozent der Tante-Emma-Läden haben in den vergangenen drei Jahren wegen Schutzgelderpressung geschlossen.

Wer da erpresst und entführt, ist längst nicht mehr klar. Eine ganze Reihe von Drogenkartellen stehen als Täter zur Auswahl: Das von Juárez, das von Sinaloa, das des Pazifiks oder das der Gebrüder Leyva Beltrán. Dazu kommen kriminelle Jugendbanden und korrupte Bedienstete der kommunalen, der staatlichen und der Bundespolizei. Und nicht zu vergessen: Trittbrettfahrer, die das Klima der allgemeinen Kriminalität nutzen, um in seinem Windschatten eigene krumme Dinger zu drehen.

Bis Anfang 2008 war die Lage noch übersichtlich. In der Stadt herrschte das Kartell von Juárez. Sein Chef Vicente Carrillo Fuentes, genannt „El Viceroy“, hatte mithilfe seines Geschäftsführers „El JL“ oder auch „El Dos Letras“ („der mit den zwei Buchstaben“) die Stadt im Griff. Wie der Mann mit bürgerlichem Namen heißt, darüber gibt es verschiedene Vermutungen. Jedenfalls kam er 2004 nach Ciudad Juárez und hat als Erstes Polizei und Staatsanwaltschaft korrumpiert. Nach einer bekanntgewordenen Gehaltsliste bekamen einfache Polizisten monatlich 2.000, Kommandanten von Polizeieinheiten 5.000 und hohe Funktionäre 20.000 US-Dollar für ihre Dienste. Mit diesen korrupten Beamten baute „El JL“ die Organisation „La Linea“ (die Linie) auf: eine Schutztruppe für Drogentransporte hinüber nach Texas.

Die führende Drogenfirma

In den Jahren davor schon war das Sinaloa-Kartell unter der Führung von Joaquín Guzmán alias „El Chapo“ zur führenden Drogenfirma im Nordwesten Mexikos aufgestiegen. „El Chapo“ ist ein kleiner Mann, der unter seiner Statur von 1,65 Metern leidet. Er soll kultiviert sein, charmant und ein sehr guter Schachspieler. 2004 kam es zu ersten Scharmützeln zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell. In ihrem Verlauf wurden Rodolfo Carrillo Fuentes alias „El Niño de Oro“ (das Goldkind) und Arturo „El Pollo“ (das Huhn) Guzmán erschossen. Beides waren jüngere Brüder der beiden Kartell-Kapos. Es drohte ein Krieg, doch „El Chapo“ überzeugte seinen Gegner „El Viceroy“, dass es besser sei, Verträge abzuschließen: Er greift das Juárez-Kartell nicht an. Im Gegenzug kann das Sinaloa-Kartell seine Ware ungehindert durch das Gebiet von „El Viceroy“ transportieren.

Der Vertrag hielt bis ins Jahr 2008. Ein gutes Jahr zuvor hatte Mexikos konservativer Präsident Felipe Calderón seinen „Krieg gegen die Drogen“ vom Zaun gebrochen, das Militär in den Kampf gegen die Kartelle geworfen und damit das labile Gleichgewicht im Norden des Landes durcheinandergebracht. Jeder suchte sich zu stärken. Das Juárez-Kartell schloss sich mit dem der Brüder Beltrán Leyva zusammen, ehemaligen Verbündeten des Sinaloa-Kartells. Das wiederum machte gemeinsame Sache mit dem Pazifik-Kartell, einer Abspaltung des Juárez-Kartells. Die Spannung zwischen den Vertragspartnern stieg.

Fortsetzung am Freitag, 8. Juli. Der erste Teil erschien am Montag, 4. Juli