„Das waren unhaltbare Zustände“

Die Polizei hat in Heiligendamm massiv Freiheitsrechte eingeschränkt, mit falschen Zahlen operiert und sogar die Gewaltenteilung verletzt. Deshalb muss nun konkret aufgeklärt werden, was geschah, so die Anwältin Karen Ullmann

KAREN ULLMANN, 32, lebt als Rechtsanwältin in Hamburg. Sie hat sich in der Anti-Atom-Bewegung engagiert und den anwaltlichen Notdienst unterstützt, der sich bei Anti-Castor-Aktionen und Großdemonstrationen für die Rechte der Demonstranten einsetzt. Für einige Jahre arbeitete sie bei der DGB-Hans-Böckler Stiftung in Düsseldorf und war dort wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem Forschungsprojekt „Regulierung am Arbeitsmarkt“.

taz: Frau Ullmann, hat die Polizei beim G-8-Gipfel Provokateure unter die Demonstranten geschleust?

Karen Ullmann: Es gibt Hinweise darauf. Sicher ist, dass die Polizei mehrere Zivilbeamte eingeschleust hat. Das hat sie nach anfänglichem Leugnen selbst zugegeben. Es ist derzeit allerdings noch nicht geklärt, was diese Zivilpolizisten dort gemacht haben. Es gibt bisher nur einen Zeugen, der sagt, ein Beamter hätte einen Stein geworfen. Es gibt aber mehrere Zeugen, die gesehen haben, wie Zivilbeamte versuchten, tschechische Demonstranten aufzuhetzen. Und diesen Zeugen vertraue ich, weil ich sie teilweise schon länger kenne.

Aber bewiesen ist der Einsatz von Agent provocateurs nicht?

Nein, aber es gibt diese Hinweise.

Viele Globalisierungskritiker, aber auch Mitglieder des Republikanischen Anwaltsvereins, tun aber so, als wäre dies eine bewiesene Tatsache. Der Polizei wurde während des G-8-Gipfels rhetorische Eskalation vorgeworfen. War dies auf der anderen Seite nicht ähnlich?

Nein. Für unsere Aussage gibt es starke Hinweise. Hinter den Aussagen der Polizei schien hingegen oft der bewusste Wille zur Manipulation zu stecken. Das fing bei den Verletztenzahlen an. Die Polizei hat von 500 verletzten Polizisten geredet, aber nicht gesagt, wie viele etwa durch Tränengas aus den Wasserwerfern verletzt wurden. Die Polizei hat auch von mehreren Schwerverletzten gesprochen. Schwerverletzte werden üblicherweise im Krankenhaus behandelt. Im Krankenhaus waren laut einem internen Polizeibericht nur 16 Polizisten, von denen zwei bleiben mussten. Einer wurde nach drei Tagen entlassen.

Auch die Zahlen der Demoorganisatoren waren nicht genau.

Gerüchte gibt es immer auf beiden Seiten. Aber in Rostock hat nur die Polizei Gerüchte gezielt als Fakten verkauft und für ihre Zwecke eingesetzt. Das ging so weit, dass Falschmeldungen vor dem Verfassungsgericht zur Begründung der Gefahrenprognose herangezogen wurden. Die Richter können die Tatsachenbehauptungen der Parteien im Eilverfahren nicht überprüfen. Aufgrund der von der Polizei vorgetragenen Tatsachen haben sie den Sternmarsch verboten. Bevor wir vom Anwaltlichen Notdienst eine Meldung herausgeben, werden alle vor Ort verfügbaren Kollegen und Zeugen befragt. Es ist uns wichtig, in aufgeheizter Stimmung mit Fakten und nicht mit Gerüchten zu argumentieren.

Welche Folgen hat das Vorgehen der Polizei beim G-8-Gipfel für den Rechtsstaat?

Das kommt darauf an, wie es weitergeht. Wenn man jetzt zur Tagesordnung übergeht, wird Heiligendamm ein schwerer Schlag für den Rechtsstaat sein. Es gab systematische Umgehung der Rechte der Festgenommenen, menschenunwürdige Unterbringung, Unterlaufen der Gewaltenteilung und weiträumige Versammlungsverbote, die das Verfassungsgericht für bedenklich hält. Die Aufklärung der fragwürdigen Praktiken der Sicherheitskräfte kann auch eine Chance sein und dazu führen, dass diese künftig behutsamer mit Freiheitsrechten umgehen müssen.

Angriff auf die Gewaltenteilung? Ist das nicht ein wenig hoch gegriffen?

Nein. Ein Richter musste anordnen, den Anwälten Zugang zu den Gefangenensammelstellen (Gesa) zu ermöglichen, nachdem die Polizei uns nicht hereingelassen hat. Das allein schon ist rechtswidrig, weil Menschen in polizeilichem Gewahrsam das Recht auf einen Anwalt haben. Eine noch krassere Verletzung des Rechtsstaates leistete sich dann allerdings der Leiter der Gesen. Der sagte: Ich hebe den Beschluss des Richters auf. Damit hat sich die Exekutive über Anordnungen der Judikative hinweggesetzt.

Aber viele Richter haben später solche Ingewahrsamnahmen für unrechtmäßig erklärt und die Betroffenen auf freien Fuß gesetzt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat doch funktioniert hat?

Natürlich haben rechtsstaatliche Mechanismen irgendwann gegriffen. Aber vielen wurde das Recht auf eine Richterentscheidung verweigert. Die Polizei hat den Personen einfach keine Sachbearbeiter zugeteilt, die darüber zu entscheiden haben, was passiert. Auf Nachfrage war einfach niemand zuständig. Das sind unhaltbare Zustände. Die Behandlung war teilweise entwürdigend. Manche saßen zehn Stunden gefesselt in der Zelle.

Wenn man den miesen Umgang mit Demonstranten in Genua 2001 auf einer Skala mit zehn bewertet – auf welchen Wert käme Heiligendamm?

Hm, fünf oder sechs. In Genua war es sehr viel schlimmer. Dort überfiel die Polizei eine Schule, Leute wurden gefoltert, in dem sie zehn Stunden an einer Wand stehen mussten. Das ist in Heiligendamm nicht passiert. Aber Italien unter Berlusconi kann kein Vergleichsmodell in Sachen Rechtsstaatlichkeit sein.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ