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ZONENRAND Am 8. November 1989 revoltiert ein kleines Dorf an der Elbe: Rüterberg erklärt sich zur Dorfrepublik. Wollte sich da eine ganze Gemeinde von der DDR lossagen? Eine Spurensuche

AUS RÜTERBERG NINA APIN
(TEXT) UND ERIK IRMER (FOTO)

Andere Dörfer haben ein Ortsschild, Rüterberg hat einen Schlagbaum. Er steht fast schüchtern neben der Fahrbahn im Wald. Daneben flattert eine verblichene Fahne im Wind: ein Ritter auf grünem Grund, der mit gezücktem Schwert über die Elbe reitet. Er ist ein Relikt genau wie das Schild: „Rüterberg Dorfrepublik 1967–1989“.

Rüterberg, das im Dreiländereck Niedersachsen/Mecklenburg-Vorpommern/Brandenburg auf einer kleinen Landzunge am Elbufer liegt, ist eigentlich ein unspektakuläres Dorf: Ziegelhäuser verteilen sich großzügig am Elbhang. Unten der Deich, oben das Gasthaus, hinten, zum Wald, der Friedhof. Drüben, am anderen Ufer, Niedersachsen.

Der Fluss war die Grenzlinie zwischen den beiden deutschen Staaten. Weil Rüterberg zwar zur DDR gehörte, aber im Sperrgebiet lag, umgab ein Grenzzaun aus Metallgitter das Dorf. 22 Jahre lang. Eine Hochsicherheitszone. „Ihre Dokumente zur Einreise!“, hieß es für jeden, der über die einzige Straße ins Dorf wollte oder hinaus. Zwischen 23 Uhr und 5 Uhr morgens wurde das Dorf ganz eingeschlossen.

Bis zum 8. November 1989, als der Ritter mit dem Schwert ins Dorf kam. Einen Tag vor dem Berliner Mauerfall erklärte sich Rüterberg geschlossen zur Dorfrepublik und hisste am Grenzzaun die Flagge.

Meinhard Schmechel erinnert sich an die Einwohnerversammlung im Gemeindehaus. „Im Raum drängelten sich an die 100 Menschen. Die Stimmung war aufgeladen“, erzählt der Mann, der 23 Jahre lang Bürgermeister von Rüterberg war. Die Unruhe, die schon seit Monaten den Arbeiter-und-Bauern-Staat erschütterte, war auch in Rüterberg angekommen. Man hatte schließlich Westfernsehen. Plötzlich sei „der Hans“, sonst eigentlich ein ruhiger Typ, aufgestanden und habe erregt die Ausrufung einer Dorfrepublik beantragt. Als pensionierter Schneider durfte Hans Rasenberger reisen. Sogar in die Schweiz, wo er eine basisdemokratische Dorfversammlung miterlebt hatte. Eine Inspiration: „Rüterberg als Dorfrepublik – die Idee hat uns allen sofort eingeleuchtet“, erinnert sich Schmechel. Abgeschlossen von allem war man sowieso. Warum nicht gleich sein eigenes Ding machen?

Als letzter Bürgermeister des Dorfes, das 2004 nach Dömitz eingemeindet wurde, fühlt sich Schmechel der Vergangenheit verpflichtet. Man könnte auch sagen: Wenn es eine offizielle Geschichtsschreibung gibt in Rüterberg, dann verwaltet sie Schmechel. Er betreibt ehrenamtlich die Heimatstube am Elbdeich: Ein Dachzimmer der leer stehenden Ausflugsgaststätte Elbklause hat er ausgebaut zu einer Mischung aus Heimatmuseum und Grenzmahnmal. An den Wänden und in Vitrinen Insignien der Dorfrepublik. Daneben FDJ-Uniformen und verblassende Porträts von Wilhelm Pieck bis Erich Honecker.

Der Alltag im umzäunten Dorf

Detlev Rasenberger ist 65, nur zwei Jahre jünger als Schmechel. Doch der Sohn des Republikgründers hat eine andere Sicht auf die Dinge. Es sei ein Missverständnis, dass sich Rüterberg an jenem 8. November 1989 von der DDR losgesagt hätte: „Das Anliegen der Dorfrepublik war doch, den Zaun wegzukriegen. Um endlich richtig zur DDR zu gehören.“ Wirklich umstürzlerisch sei das nicht gewesen.

Meinhard Schmechel – korpulent, breites Lächeln, ebenso breiter norddeutscher Akzent – zeigt einen Passierschein „zum vorübergehenden Aufenthalt im Schutzstreifen“. Für Besuch. „Den Ausweis zu vergessen, das war für einen Rüterberger eine Katastrophe“, erzählt er vom Alltag im umzäunten Dorf: „Um halb vier Uhr nachts kam der Bus, der die Melker nach Haidhof brachte. Um zehn nach fünf ging der zum Spanplattenwerk nach Malliß, wo auch meine Frau arbeitete. Dann herrschte tote Hose. Nachts kam noch nicht mal der Krankenwagen rein.“ Als der Geburtstermin für seine Tochter näher rückte, hatte er immer einen Bolzenschneider in der Tasche. „Ich hätte das Ding notfalls aufgeschnitten“, sagt er.

Immer enger rückten die Grenzsicherungsanlagen im Lauf der Jahre ans Dorf heran. In aller Stille wurden politisch missliebige Bewohner zwangsumgesiedelt. Als 1989 nur noch die Hälfte der 300 Bewohner übrig war und der Grenzzaun auch noch den Badeteich abtrennen sollte, wurde es den Rüterbergern zu viel.

Nach der Einwohnerversammlung stieg Hans Rasenberger auf den DDR-Grenzturm und hisste die Fahne der Dorfrepublik. Der Turm steht noch, aber man kann ihn nicht mehr besichtigen. Gleich nach der Wende kaufte ihn ein Geschäftsmann aus Freiburg und richtete darin eine Ferienwohnung ein. Die Gemeinde baute ihm eine Aussichtsplattform aus Holz vor die Nase, direkt an die Elbe. Dort oben bietet sich ein grandioses Panorama. Über glitzerndes Wasser ziehen Wildgänse und Kraniche, drüben erahnt man die Ortschaft Damnatz im Wendland.

Die Nähe zum Westen, einst Rüterbergs Unglück, hat sich als Standortvorteil herausgestellt. Rüterberg wächst wieder. 28 neue Häuser kamen seit der Wende hinzu. Besonders Hamburger fühlen sich von der idyllischen Elblage angezogen. Wie die Neubürgerin, die unten am Deich spazieren geht. Besonders attraktiv findet sie, dass man in nur 15 Minuten „drüben“ ist, wo es Läden und Ärzte gibt.

Detlev Rasenberger möchte in Rüterberg alt werden. 1967 floh er als 18-Jähriger aus dem Dorf, das er als „eingezäuntes Reservat“ empfand, nach Ostberlin. Jetzt ist es ihm dort zu laut geworden. Der Grafiker im Ruhestand empfängt in der Kate, die sein Urgroßvater errichtet und der Schneidermeister als Wohnhaus und Werkstatt ausgebaut hatte. 2007 ist der Dorfrepublikgründer verstorben. Im ehemaligen Anprobezimmer stapeln sich Publikationen und Bilder, darunter von Rasenberger junior angefertigte Poststempel und Wappenskizzen.

Im Grenzgebiet durfte nicht jeder wohnen

Detlev Rasenberger hat seinen Vater oft gefragt, ob der denn keine Angst hatte. Schließlich habe keiner wissen können, wie die Staatsmacht auf so eine Provokation reagierte. Der Vater sagte, man habe handeln wollen und wenig an die Folgen gedacht. Eine Reaktion gab es auch nie. Die Grenzposten kontrollierten weiter – auch noch Tage nach dem Mauerfall. Irgendwann demontierten Soldaten kommentarlos die scharfkantigen Metallgitterzäune. Rüterberg war frei. Elf Monate lang, bis zum Ende am 3. Oktober 1990, war das Dorf noch Teil der DDR. Als Anerkennung des Grenzleids durfte Rüterberg noch bis 2002 den Zusatz „Dorfrepublik 1967–1989“ auf dem Ortsschild führen.

Als Rasenberger Besuch bekommt von einem Bekannten, schlägt die Stimmung im Schneiderhaus um. Der Sachse, kurz nach der Wende zugezogen, sieht in Rüterberg überall noch alte Seilschaften am Werk. Er schimpft über satte Abfindungen für ehemalige Grenzer, spekuliert über Stasiakten der Dorfbewohner. Seien nicht fast alle hier besonders regimetreu gewesen? Rasenberger protestiert, schiebt seinen Bekannten behutsam aus der Tür. „Das ist doch alles Hörensagen und lange her.“ Er sieht erschöpft aus.

Rasenberger zeigt das einzig sichtbare Relikt, das die Stasi in Rüterberg hinterlassen hat. Am westlichen Ortsrand im Wald, hinter der alten Tongrube, die heute ein Naturschutzgebiet ist, steht zwischen Bäumen ein verfallenes Haus. Das letzte Haus von Broda. Der Ortsteil wurde 1981 eingeebnet, er lag zu nah am Fluss. Nur ein Haus blieb übrig, dort lebte bis zum Oktober 1988 ein einzelner Mitarbeiter der Staatssicherheit. An den Wochenenden soll der Geheimdienst dort rauschende Partys gefeiert haben. Konspirativ, denn ein offizieller Posten war das Haus im Wald nie.

Jetzt ist es eine Ruine, das Dach halb eingestürzt, aus den Fenstern wächst Gesträuch. Rasenberger zuckt die Achseln, er zeigt auf ein paar Apfelbäume und Gartenblumen – Siedlungsreste, die sich mit der Vegetation des Waldes vermischt haben.

Lange her.

Den DDR-Flüchtling Dietmar Raffel dagegen lässt die Vergangenheit nicht in Ruhe. Er ist in Broda aufgewachsen, 1972 floh er als 18-Jähriger aus Rüterberg. Genau an der Stelle, an der heute ein Stück Grenzzaun als Mahnmal steht, sprang er in die Elbe und ließ sich von einem westdeutschen Zollboot retten. Heute lebt er in Westfalen.

Raffel kann bis heute nicht verwinden, was seinem Heimatort und seiner Familie angetan wurde: Nach seiner „Republikflucht“ wurden Eltern und Geschwister auf Viehwaggons verladen und nach Nordmecklenburg verbracht. Der Vater, zuvor Hauptmann der Nationalen Volksarmee, wurde über Nacht zum „Schädling“. Nicht vertrauenswürdig genug, um weiter im Grenzgebiet leben zu dürfen. Es habe lange gedauert, bis die Eltern darüber sprechen konnten.

Raffel sagt am Telefon, dass er vor ein paar Jahren seine Stasiakte eingesehen habe. Vier Jahre lang habe ihn die Stasi noch im Westen bespitzelt, „die haben immer gewusst, wo ich bin“. 1976 endete die Akte, das Interesse war offenbar erlahmt. Raffel sagt heute, er habe seinen Frieden gemacht mit Rüterberg. Ein paarmal ist er seit der Wende wieder hingefahren. Hat die Heimatstube besucht, in der eine Uniform seines Vaters hängt.

Allerdings erst, nachdem er die Akten gesichtet hatte. Und sicher sein konnte, dass unter den Nachbarn seiner Kindheit kein Stasispitzel war. Er sagt: „Das hätte ich nur schwer ertragen.“