Bis das Licht erlischt

STERBEBEGLEITUNG Wer in das Hospiz Hamburg Leuchtfeuer zieht, hat nur noch wenige Wochen zu leben. Hier soll Abschied in Würde und nicht an Apparaten genommen werden – die Kranken entscheiden selbst, wie intensiv ihre letzte Lebensphase sein soll

Willi B. bekommt keine Angst, wenn der Leichenwagen mal wieder vor der Haustür hält. Er klammert sich nicht ans Leben. „Ich sehe gelassen in die Zukunft“, sagt er, und lacht

VON VIVIANE PETRESCU

Willi B. hat sich dagegen entschieden, seine eigenen Möbel mitzubringen. Die Wände seines Zimmers sind mit Raufaser tapeziert, in Hüfthöhe verläuft eine Holzleiste. Die Möbel sind aus Birkenholz und könnten auch die Einrichtung eines Jugendzimmers sein. Dann fällt auf, dass das Bett höhenverstellbar ist; das zusätzliche Klappbrett am Nachttisch. Über dem Bett hängt eine Magnettafel an der Wand, auf der hat Willi B. Fotografien seiner Kinder angebracht. Die besuchen ihn einmal die Woche im Hospiz Leuchtfeuer. An dem Ort, den Willi B. aufsuchte, um zu sterben.

„Wir wollen Menschen in ihrer letzten Lebensphase einen geschützten Raum geben“, sagt Petra Fischbach, Geschäftsführerin von Hamburg Leuchtfeuer. Während sie spricht, legt sie ihre Hände manchmal zusammen, wie zum Gebet.

Elf Betten gibt es im Hospiz, das letzter Wohnort sein soll und keine Klinik. BewohnerInnen, keine PatientInnen – dieser Unterschied ist Fischbach sehr wichtig. „Die Intensivmedizin ist eine reine Apparatemedizin – Menschen werden von Maschinen fremdbestimmt“, meint die ehemalige Krankenschwester. Auf der Intensivstation habe sie oft einen Umgang erlebt, der ihrem Bild von menschlicher Würde widersprach.

Als die Ärzte bei Willi B. Krebs diagnostizierten, war der Tumor in der Lunge bereits so groß wie ein kleiner Luftballon. Eine Behandlung hätte seine Lebenserwartung von sechs Monaten auf acht Monate verlängert – die er dann im Krankenhaus verbracht hätte. An diesem Tag ging Willi B. nach dem Arzttermin an der Alster spazieren, die Sonne schien. Er entschied sich gegen die Operation, weil er genießen wollte, was vom Leben bleibt.

„Die letzte Lebensphase ist bunt wie das Leben selbst“, sagt Fischbach. Im Hospiz-Alltag gebe es deshalb mehr als Trauer. Niemand müsse hier peinlich berührt sein, wenn er weint – aber auch nicht, wenn er lacht.

Im Hamburg Leuchtfeuer werden lediglich Symptome behandelt, also beispielsweise Schmerzmittel verabreicht. Es geht nicht darum, den Tod so weit nach hinten zu schieben wie möglich. Stattdessen sollen die Bewohnerinnen und Bewohner Abschied von ihrem Leben nehmen können.

Für Willi B. kam ein Aufenthalt im Hospiz zunächst gar nicht in Frage. „Ich dachte, da warten die schwarzen Nonnen auf Einen, und wenn die sich umdrehen, erschrecke ich mich und bin tot“, sagt er. Seine Kinder stießen im Internet auf das Hospiz Leuchtfeuer. Er kam auf die Warteliste. Übersteigt die Nachfrage die Anzahl verfügbarer Betten, verweist Leuchtfeuer auch an andere Hospize. Willi B. dachte zunächst, er hätte keine Chance auf ein Bett – dann rutschte sein Name doch ganz schnell nach oben. Dann brauchte er nur noch die Kostenzusage der Krankenkasse. Die zahlt nur bei einer unheilbaren Krankheit, wenn der Tod in wenigen Wochen zu erwarten ist. Alle vier Wochen prüft die Kasse, ob der Anspruch weiterhin besteht.

Bei seiner Aufnahme war Willi B.s Gesundheitszustand bereits so schlecht, dass er manchmal tagelang nicht vor die Tür ging. Zuerst hatte er gar nichts bemerkt, von dem Tumor, der seine Metastasen bald über die Niere und andere Organe streute. Irgendwann war der Sprint zum Bus nicht mehr machbar, er war außer Atem, kaum dass er sich bewegt hatte. „Ich wollte nicht irgendwann allein auf der Couch sterben“, sagt er.

Willi B. bekommt keine Angst, wenn der Leichenwagen mal wieder vor der Haustür hält. Mit dem Leben abgeschlossen hat er zwar noch nicht und auch Sterbehilfe lehnt er ab. Aber er klammert nicht: „Ich sehe gelassen in die Zukunft.“ Dann lacht er. Für ihn ist das Zimmer im Hospiz sowieso nur Übergang. Er glaube zwar nicht an den „Mann mit weißem Rauschebart“, der auf einem Wölkchen die Menschen erwartet. Ein Existieren nach dem Tod hält er aber durchaus für möglich.

An seiner Zimmerwand hängt eine Fotografie, von einem Steg, der zu einem vernebelten See führt. Über der Wasseroberfläche erhellt ein Lichtstrahl den Weg. Eine Symbolik, die im Hospiz immer wieder zu finden ist: Licht im Dunkel, Licht am Ende.

Im August des vergangenen Jahres prophezeiten die Ärzte Willi B. den Tod in sechs Monaten. Elf Monate später hört er in seinem Zimmer die Vögel zwitschern. Seit 16 Wochen ist er jetzt im Hospiz. Dort ist er bekannt für seinen schwarzen Humor. Er hat viele BewohnerInnen kommen und sterben sehen. „Mittlerweile habe ich einen Blick dafür, wie lange jemand noch hier lebt“, sagt er.

Stirbt ein Bewohner oder eine Bewohnerin, wird im Foyer eine Kerze entzündet. Ungefähr vierundzwanzig Stunden wird ihr Licht nicht erlöschen, bis sie ganz heruntergebrannt ist. So lange dürfen verstorbene BewohnerInnen, die das wollten, in ihren Zimmern bleiben.

Unter der Kerze steht eine Wachstafel, in die der Name des Verstobenen geritzt wird. Wenn die Kerze heruntergebrannt ist, wird sie wieder eingeschmolzen.

In ein Buch daneben werden die Namen ebenfalls geschrieben, zusammen mit dem Todestag. Je nach Wunsch der Verstorbenen haben Angehörige und BewohnerInnen des Hauses die Möglichkeit, die Namensseite mit Gedanken zu füllen. Selten liegt zwischen den Seiten mehr als eine Woche.

Im Hospiz von Hamburg Leuchtfeuer soll auch den Angehörigen der Abschied leichter gemacht werden. Wenn sie möchten, dürfen sie ihren geliebten Menschen bei jedem der letzten Schritte begleiten – am Mittagessen teilnehmen, nachts die Hand halten und letztlich die Augen schließen. Für die Zeit danach bietet das Hospiz psychosoziale Betreuung und Trauerbegleitung für Angehörige.

Für Fischbach ist die Arbeit im Hospiz vor allem eine Lektion in Entschleunigung. „Die letzte Lebensphase ist eine sehr intensive“, sagt sie. Es sei eine Bereicherung, an diesem Lebensabschnitt teilzuhaben und das Vertrauen der Sterbenden zu genießen. „Man muss sich immer wieder neu berühren lassen“, sagt Fischbach.