„Du musst Dinge tun, die Angst machen“

KUNST Ein Gespräch mit Marina Abramovic – über Schmerz, Performances und Robert Wilsons Stück über sie

Das Theaterstück von Robert Wilson über das Leben (und den Tod) der Marina Abramovic hat am 9. Juli beim Manchester International Festival Premiere. Infos unter www.mif.co.uk

„The Artist is Present“: Während dieser Performance saß sie täglich sieben Stunden lang bewegungslos auf einem Stuhl im New Yorker MoMA, jeweils ein Besucher konnte sich ihr gegenübersetzen, solange er wollte. 1.565 Besucher nahmen die Einladung an.

In Belgrad wurde die Künstlerin am 30. 11. 1946 geboren. Performances zeigt sie seit 1973.

INTERVIEW KATJA HUBER

taz: Frau Abramovic, von Mitte März bis Ende Mai 2010 saßen Sie in der Ausstellung „The Artist is Present“ von morgens bis Abends bewegungslos im New Yorker MoMA. Jeder Performance-Fan konnte sich darauf verlassen: Wenn ich nur lange genug warte, kann ich mich Marina Abramovic’ Blick aussetzen. Damit haben Sie den Besuchern Zeit und Sicherheit in einem Maße geschenkt, das heute schon fast anachronistisch scheint. Wollten Sie dem Publikum etwas geben, was es im Alltag vermisst?

Marina Abramovic: Auch im Kunstbetrieb. Bis heute wird das Publikum von Künstlern doch immer als eine Gruppe gesehen, die kommt, um deine Kunst zu sehen, und niemals als ein Individuum. Aber für mich war dieses Event auch aus vielen anderen Gründen sehr wichtig. Ich habe die Ausstellung auch als Möglichkeit gesehen, Performance, die immer noch als Alternativ-Kunst angesehen wird, als Mainstream-Kunst ins Museum zu bringen. Video und Fotografie haben diesen Weg längst gemacht, übrig geblieben ist die Performance-Kunst als eine Art Unterhaltungs-Gimmick. Genau diese Einstellung hatte ich wirklich satt. Immerhin habe ich dieser Kunst mein gesamtes Leben gewidmet. Und tatsächlich habe ich mit diesem Event die Massenmedien erreicht und auch ganz normale Menschen, was Performern in dem Maße vorher nicht gelungen ist.

Was aber auch die hippe New Yorker Kulturszene nicht davon abgehalten hat, zu Marina zu gehen und „mit ihr zu sitzen“. Bildende Künstler, Schauspieler und Musiker von Björk und Matthew Barney über Tilda Swinton und Lou Reed haben Schlange gestanden, um sitzen zu dürfen. Lag das wirklich nur daran, dass Performance-Kunst jetzt endlich mal prominenten Raum bekommen hat? Oder auch daran, dass ausgerechnet die Prominente Marina Abramovic sich und ihre Kunst im MoMA ausgestellt hat?

Ich glaube, der Stellenwert der Performance-Art an sich ändert sich gerade. Jedes Mal, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, werden die Performer wieder lebendig. Performen kostet eben lächerlich wenig, fast nichts. Als ich die Show im MoMA vorbereitet habe, hatte Damien Hirst gerade eine Ausstellung, die er als „Ende einer Ära“ bezeichnet hat. Und damit hat er recht. Mit der Finanzkrise und dem Kollaps des Kunstmarkts hat sich die Vorstellung von Kunst als Ware wieder extrem relativiert. Plötzlich ist wieder wieder klarer, dass es bei Kunst nicht nur um Geld geht.

Sie bezeichnen die 736-stündige Performance im MoMA als Ihre schwierigste und schmerzvollste. In frühen Arbeiten haben Sie sich einen fünfzackigen Stern in die Bauchhaut geritzt oder sich so lange den Kopf gebürstet, bis die Kopfhaut blutete. Warum setzen Sie sich permanent dem Schmerz aus?

Ich setze mich dem Schmerz nicht wirklich bewusst aus. In meinem Privatleben versuche ich, Schmerz zu vermeiden. Ich mag Schmerz auch gar nicht. Aber denken wir doch mal über den Menschen und über die Kunst nach: Die wenigen Dinge, mit denen Menschen noch immer Probleme haben, sind ihre Sterblichkeit, Leiden und Schmerz. Davor haben wir Angst. Ich habe bei meiner Arbeit schon sehr früh herausgefunden, dass ich mich nicht verändern werde, solange ich immer nur Dinge tue, die ich mag. Nur wenn du Dinge machst, vor denen du Angst hast, die du nicht wirklich kennst oder die sogar völliges Neuland für dich sind, nimmst du neue Perspektiven ein. Du erreichst ein anderes Bewusstsein. Genau das ist mein Ziel. Und bei „The Artist Is Present“ war ich auf der andere Seite. Diese Arbeit hat mich mental, körperlich und spirituell verändert. Und nicht nur mich hat sie verändert, auch mein Publikum. Für das, was wir erreicht haben, ist der Schmerz ein geringer Preis.

Benutzen Sie Schmerz, um Geschichten zu erzählen?

Ich benutze Schmerz für überhaupt nichts. Wenn ich wie bei „The Artist Is Present“ dasitze und der Schmerz stärker und stärker wird und ich mich unbedingt bewegen will, sage ich mir trotzdem: Ich werde mich nicht bewegen. Das geht so weit, dass ich mir denke, wenn ich mich jetzt nicht bewege, falle ich in Ohnmacht. Und dann sage ich mir: Na und, dann fällst du eben in Ohnmacht! Und genau, wenn ich diesen Punkt erreicht habe, verschwindet der Schmerz. Man kann den Schmerz also überwinden, es geht nicht darum, ihn zu benutzen, sondern ihn zu überwinden und zu verstehen, dass Schmerz ein mentales Konstrukt ist. Und das ist eine sehr große Entdeckung.

Ein erweitertes Bewusstsein – ist das denn auch ein Anspruch, den Sie mit Ihrem Institut verfolgen, das 2012 in New York eröffnet werden soll? Was genau planen Sie?

Ich habe ein sehr großes Gebäude gekauft, am Hudson, in das 1.500 Leute passen, und dort wird nicht nur Performance stattfinden, sondern auch Oper, Tanz, Video und Film. Der einzige, aber große Unterschied zu allen andern Instituten ist: Alles was dort stattfindet, dauert mindestens sechs Stunden.Wenn ich eins gelernt habe in meiner Karriere als Künstlerin, dann das: Nur Kunstwerke, die andauern, die sehr lange dauern, können dich wirklich verändern. Und ja, das betrifft den Performer genauso wie den Zuschauer. Ich werde in dem Institut renommierten, aber auch jungen unbekannten Künstlern Lehraufträge erteilen, es wird dort Unterricht geben und viele andere Dinge. Ich werde nicht die Direktorin sein, sondern nur die Initiatorin. Und wenn ich einmal sterbe, wird das mein Erbe sein. Diese Möglichkeit, lang andauernde Performances ausüben zu können, wird mein Erbe sein.

Sie denken derzeit nicht nur über Ihr Erbe nach, sondern auch verstärkt über Ihr Leben und Ihren Tod. So sehr, dass Sie sogar andere Künstler damit beauftragen.

Ja, alle fünf bis sechs Jahre mache ich mein Leben tatsächlich zum Theater. Ich arbeite mit unterschiedlichen Regisseuren, denen ich alles verfügbare biografische Material über mich gebe. Sie können damit machen, was sie wollen. Die Teile meines Lebens, die sie nicht mögen, können sie zum Beispiel komplett streichen. Wenn ich dann mein Leben spiele, ist es jedes Mal völlig neu für mich. Der Regisseur des ersten Stücks war Charles Atlas, danach kam Michael Laub. Jetzt können wir uns auf „The Life and Death of Marina Abramovic“ von Robert Wilson freuen, das tatsächlich mit meiner Beerdigung beginnt, sich bis zur Kindheit vorarbeitet und dann wieder mit der Beerdigung endet. Ich spiele mich selbst, es wird 12 verschiedene Marinas geben mit unterschiedlichen Masken. William Dafoe wird der Erzähler sein. Und Antony and the Johnsons hat die Musik geschrieben, 12 großartige Stücke. Ich nehme gerade Gesangsunterricht, weil ich einen Song performen will, was ich bisher noch nie getan habe.

Ihre Eltern waren im Zweiten Weltkrieg Partisanen, Ihre Mutter war Majorin in der Armee und Ihr Großvater ein Patriarch der serbisch-orthodoxen Kirche. Wie hat das Ihre Kindheit, Jugend und Ihre Arbeit beeinflusst?

Ich werde ständig gefragt, woher ich diese Willenskraft habe und warum ich all das machen kann, was ich mache. Und ich glaube wirklich, dass das auch eine genetische Veranlagung ist, dass beide Eltern nicht nur Partisanen, sondern Nationalhelden waren. Disziplin, Ordnung und diese unglaubliche Idee, sich für deine Träume zu opfern, waren ein großer Teil meiner Erziehung. Darum geht es auch in meiner gesamten Arbeit und meinem Leben.

Warum fanden Ihre Performances in Belgrad in den 70ern immer nachmittags oder am frühen Abend statt?

Ja, abends musste ich zu Hause sein. Meine Mutter hat mir verboten, länger als bis 22 Uhr auszugehen, das ging so lange, bis ich von zu Hause nach Amsterdam abgehauen bin. Meine Mutter wollte damals bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Als sie nach meinem Alter gefragt wurde und „29“ geantwortet hat, haben sie zu lachen angefangen und gesagt: „Gehen Sie doch bitte heim, wir haben wirklich wichtigere Dinge zu tun.“ Ich war tatsächlich schon 29, als ich von zu Hause abgehauen bin, hatte mir bis dahin aber auch schon meine künstlerische Karriere geschaffen – vor zehn Uhr abends.

Sie sagten eben, dass Sie Schmerz in Ihrem Privatleben vermeiden. Haben Sie überhaupt ein Privatleben?

Stimmt, ich habe keins. Alles, was ich tue, ist mehr oder weniger meiner Arbeit gewidmet. Es ist wirklich interessant, in meinem sogenannten wirklichen Leben habe ich überhaupt keine Zeit. Deshalb werden meine Performances länger und länger und länger. Denn sobald du den Perfomanceraum betrittst, stoppt alles. Jeglicher Stress verfliegt, es gibt nur noch die Arbeit, was ein wundervolles Gefühl ist. Und so denke ich darüber nach, nicht nur drei Monate zu performen, sondern sechs oder ein ganzes Jahr.

Damit wäre auch endlich das Geheimnis Ihrer Jugend gelüftet. Es wird ja immer wieder spekuliert, wie Sie es schaffen, wie eine sehr gesunde 40-Jährige auszusehen. Haben Ihre Performances einfach die Zeit stillstehen lassen?

Ja, ja, die Amerikaner spekulieren natürlich besonders gerne darüber, ob ich Schönheitsoperationen hatte oder nicht. Aber ich glaube, was einen wirklich jung hält, ist, das zu machen, was man liebt, so wenig Kompromisse wie möglich einzugehen und sich immer wieder selbst zu überraschen. Deshalb habe ich mich auch besonders darüber gefreut, dass ich nach meiner Performance im MoMA eine Mail von einer Russin bekommen habe, die behauptet hat, sie sei Filmemacherin. Sie wollte mir die Hauptrolle in ihrem Film anbieten: eine sibirische Wissenschaftlerin, die von Aliens überfallen wird. Ich habe sie sofort gebeten, mir mehr Material zu schicken, ich warte noch immer auf eine Antwort.

Sie haben also ein ernsthaftes Interesse an dieser Rolle?

Eine sibirische Wissenschaftlerin, die von Aliens überfallen wird? Ich bitte Sie! Wer hätte daran kein Interesse?