Wenn die Botschaft quält

Dimiter Gotscheff mit seinem Hamburger Heiner Müller/ Moliére-„Tartuffe“ bei den Recklinghäuser Ruhrfestspielen. Die wunderbare Konfetti-Inszenierung provoziert den Frank Castorf-Effekt

VON PETER ORTMANN

Minutenlang prasseln Konfetti und Luftschlangen auf die Bühne. Bühnen-Kanoniere schießen was das Zeug hält, bis alles mit dem buntem Papier übersäht ist. Der silberne Block im Recklinghäuser Festspielhaus applaudiert frenetisch. Was für ein grandioses Bild. Ruhrfestspiele 2007. Ein Erfolgsmärchen. „Das Publikum hat sich verjüngt“, sagt Intendant Frank Hoffmann, als er gestern den jährlichen Besucherrekord (jetzt über 75.000) bekannt gab. Auch wenn der Altersdurchschnitt bei den Schauspielen wohl endlich unter die 70-Jahre-Grenze gedrückt wurde – schon Minuten nach dem Luftschlangen-Feuerwerk begann der silberne Block bei „Tartuffe“ nach Moliéres Komödie wieder zu bröckeln. Im Minutentakt verließen verrentete Zuschauer ihre Sitzplätze. Da halfen auch die Melodie des Horst-Wessel-Liedes und gemeinsames Blaue Bock-Klatschen zu „Oh happy days“ nicht mehr. Der seit drei Jahren bekannte Frank Castorf-Effekt ist bei den Ruhrfestspielen groß wie immer: Wenn dort auf der Bühne dreimal „ficken“ gesagt wird, ist im Prinzip eine Stuhl-Reihe leer. Und Regisseur Dimiter Gotscheff kommt auch noch von der verhassten Berliner Volksbühne, obwohl das die Frühgänger wahrscheinlich nicht wussten.

Nach der Suche nach „dem Verweser von Körperöffnungen“ und den herrlichen Soli von Judith Rosmair als „kleine bulgarische Fotze“ Dorine, war dem Heiner Müller/Moliére-„Tartuffe“ vom Hamburger Thalia Theater kaum noch zu folgen. Die alten Theatergänger rechts und links, vor und hinter zischelten, was die dritten Zähne hergaben. Dabei ist die humpelnde, giftige Haushilfe des großen Orgon, der auf den radikal-katholischen Verführer Tartuffe reinfällt und ihm Tochter und Vermögen vermacht, die einzige, die das böse Spiel durchschaut, aber am Schluss mitverliert. Peter Jordan als verblendeter Sandalenheiliger hat noch versucht, dem Recklinghäuser Publikum ihre dicken Schlitten auf dem Parkplatz abzuschwatzen, da treibt Tartuffe die Kapitalisten auch schon an die Bühnenrampe und hoffentlich auch auf die Schlachtbank. Doch vorher fällt der symbolische Vorhang. Das heißt Aufbruchstimmung. Noch bevor der letzte Scheinwerfer aus ist, strömt das Publikum. Zu Schampus und A-, E- und S-Klasse. Sie haben die Gotscheff-Botschaft wohl verstanden, beim Applaus wollen sie ihn dann nicht auch noch auf der Bühne sehen.

So ähnlich muss es auch Anfang des 17. Jahrhunderts bei der Affäre Moliéres um den Tartuffe-Stoff gewesen sein. Sechs Jahre lang wütete die Schlammschlacht um eine Komödie, in der zum ersten Mal Klerus und Großbürgertum gleichermaßen schlecht aussahen. Der Einkauf dieser hoch gelobten Inszenierung vom letzten Jahr hat sich dennoch gelohnt. Wie die gesamten Ruhrfestspiele war das Festspielhaus um 85 Prozent ausgelastet. Und wer früher geht, der hat ja vorher bezahlt. Wenn am Sonntag Schluss ist, werden an sieben Spielorten 240 Schauspiel- und Tanzaufführungen, Lesungen und Konzerte zu sehen gewesen sein. Ökonomisch ist alles im Lot, Deutscher Gewerkschaftsbund, Stadt und Land sind wohl zufrieden. Letzte Woche sah Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Ruhrfestspiele sogar als ein prägendes Element der kulturellen Landschaft des Ruhrgebietes. Der silberne Block marschiert.

Der Tartuffe 20:00 Uhr, Festspielhaus Infos: 02361-92180