„Masern waren noch nie harmlos“

Bei Kontrollen von Impfpässen sollte der Arzt mit der Spritze gleich daneben stehen, wünscht sich Anette Siedler vom Robert-Koch-Institut. NRW und Deutschland hinkten bei der Ausrottung der gefährlichen Kinderkrankheit hinterher

ANETTE SIEDLER, 48, ist Epidemiologin und seit 2001 am Robert-Koch-Institut in Berlin tätig.

taz: Frau Siedler, NRW ist das zweite Jahr in Folge Masern-Hochburg in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

Anette Siedler: Ich kann nur vermuten, dass es dort viele Jugendliche gibt, die über keinen ausreichenden Impfschutz verfügen. Die Situation kann sich überall dort abspielen, wo der Impfschutz zu gering ist.

Platt gesagt: Masern hatten wir alle und haben sie überlebt. Warum wird heute so viel Aufhebens darum gemacht?

Es wird so viel Aufhebens gemacht, weil man die Krankheit heute durch Impfung vermeiden kann. Masern waren nie so harmlos wie sie gerne als Kinderkrankheit abgetan werden. Auch früher erkrankten viele Kinder schwer daran. Dass dagegen ein Impfstoff entwickelt wurde, kam ja nicht von ungefähr.

Wann war das?

Seit Anfang der 1970er Jahre wird in Deutschland geimpft. In der DDR hatte sich durch die Pflichtimpfung das Problem bis zum Ende der 80er Jahre nahezu erledigt. Wohingegen die Impfung im alten Bundesgebiet nur empfohlen wurde und es deshalb immer wieder zu Ausbrüchen kam. Wir wissen aber nicht, wie häufig Masern vorkamen: Es gab darüber damals keine systematische Erfassung. Erst seit 2001 sind Masern in Deutschland meldepflichtig. Die Krankheit ist ins Blickfeld gerückt, weil es weltweite Anstrengungen gibt, sie auszurotten. Das ist möglich, weil der Mensch der einzige Wirt ist für dieses Virus. In anderen Teilen der Welt ist man dem Ziel schon weit näher gekommen als in Westeuropa.

Die Gegner von Impfungen argumentieren, dass diese selbst gefährlich seien.

Impfungen haben natürlich auch Nebenwirkungen, aber die Nebenwirkungen sind um ein Vielfaches geringer als die Komplikationen nach Erkrankungen.

Warum dürfen ungeimpfte Kinder nicht in die Schule, wenn ein Masernfall aufgetreten ist? Sie stecken doch nur die an, die auch nicht geimpft sind.

Ungeschützte Kinder sollen zu Hause bleiben, damit sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Außerdem gibt es Kinder, die nicht geimpft werden dürfen – weil sie zum Beispiel einen Immundefekt haben. Auch die müssen geschützt werden.

Zurzeit wird in NRW noch an die Verantwortung der Eltern appelliert. Angesichts der vielen Masernfälle wird aber auch über einen Impfzwang diskutiert. Was halten Sie davon?

Alle Verpflichtungen, die eingeführt werden, wirken nur so lange wie sie auch kontrolliert werden. Wer soll das tun? Meines Erachtens würde es genügen, wenn die Gesundheitsbehörden Impflücken aufdecken und direkt Impfangebote setzen. Wenn man die Impfpässe aller Kinder einsammelt um festzustellen, wer nicht geimpft ist, dann müsste der Arzt mit der Spritze eigentlich gleich daneben stehen. Wenn das organisiert werden könnte, gäbe es da kein Problem mehr.

INTERVIEW: NATALIE WIESMANN