Gerangel um Aufmerksamkeit

TANZ Erinnerungen kämpfen mit der Gegenwärtigkeit der Körper in „The Past“ von Constanza Macras. Uraufführung in Dresden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ein Mann hält einen Vortrag hoch oben auf einem Gerüst, über die Kunst der Erinnerung. Seine Sätze sind akademisch, er zieht Lehren der Antike und des Mittelalters heran und spricht über Bilder, die Erinnerungen stützen. Während er redet, wird er selbst in bildhafte kleine Ereignisse verwickelt, die es schwer machen, auch nur einen Satz festzuhalten. Eine Frau bringt ihn zum Stolpern, er läuft eine Treppe hoch und rutscht wieder herab. Er kommt auf eine Mnemotechnik zu sprechen, die das Erinnern mit Orten verknüpft. Derweil versammeln sich acht, neun oder zehn Tänzerinnen und Tänzer unter ihm und lassen ein Geräusch aus ihren Kehlen steigen, das schriller wird und sich verdichtet, bis es an Sirenen und das Dröhnen von Flugzeugen erinnert.

Im späteren Verlauf von „The Past“, einem Tanzstück von Constanza Macras und ihrer Gruppe Dorky Park, wird man dieses Geräusch Erinnerungen zuordnen können, von älteren Frauen aus Dresden, die in ihrer Kindheit die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Man wird aus der Präzision ihrer Erzählungen über Ereignisse, die siebzig Jahre und mehr zurückliegen, weniger den Schrecken über den Krieg mitnehmen, als vielmehr das Staunen darüber, dass gerade das Schlimmste die genauesten Bilder in das Gedächtnis brennt. Doch bevor „The Past“ sich den Zeitzeuginnen zuwendet, treibt die Tanztruppe erst mal allerlei Schabernack.

Umsortieren der Zeichen

Sie laufen wie ein Kleiderständer für Hemd und Hose, ohne Kopf, über die Bühne, tanzen mit leer schlackernden Jackenärmeln, oder laufen zu zweit in einem Kostüm. Das ist zunächst eine Störung der gewohnten körperlichen Ordnung, ein Umsortieren der Glieder, ein verwirrender Pool an Zeichen. Eine Stimme aus dem Off fragt unterdessen nach Denkmälern der DDR, die inzwischen aus den Stadtbildern entfernt wurden.

„The Past“ beschäftigt sich sowohl mit den allgemeinen Strukturen des Gedächtnisses als auch mit konkreten Erinnerungen. Das Stück wurde im Festspielhaus Dresden Hellerau uraufgeführt, selbst eine Architektur, in der sich die Schriften verschiedenen Epochen deutscher Geschichte überlagern. Eine Gedenkveranstaltung ist die Inszenierung, die ab 27. November in der Schaubühne Berlin läuft, dennoch nicht geworden. Zwar nehmen die Text über Dresden, in der Zeit des Krieges, in den Jahren der DDR und in der Nachwendezeit, größeren Raum ein: Allein, wenn eine Tänzerin, während sie den Text einer Zeitzeugin spricht, sich dabei zugleich in einem komplizierten körperlichen Dialog mit einem Tanzpartner verschraubt, so saugt diese Aktion entschieden mehr Aufmerksamkeit als der Text, der so ein seltsamer Fremdkörper bleibt.

Gelungener sind die Teile der Aufführung, die sich einem komödiantischen Esprit überlassen. Wenn sich in einer langen Passage Paare doubeln und Szenen wiederholen, Sätze und Pistolen geklaut werden und sprachliche Figuren unerwartete Verkörperungen erfahren: Dann spürt man das Funkeln des Witzes und das Wuchern der Fantasie in dieser Truppe, die alles, was sie anfasst, durchknetet, bis sich der Sinn einmal um seine Achse gedreht hat. Im solch subversivem Unterlaufen auch der eigenen Darstellungsmittel liegt eine Stärke der Berliner Choreografin Constanza Macras und ihrer Gruppe Dorky Park.

Was „The Past“ einen Rahmen voller Spannung verleiht, ist weniger das Thema als die Musik, die Oscar Bianchi, italienisch-schweizerischer Komponist, während der Proben entwickelt hat. Neben wiedererkennbaren Instrumenten wie Schlagzeug und Geige werden auch andere Gegenstände zum Klangkörper, wie eine Satellitenschüssel, über die der Bogen streicht. Die Tänzer und ihre Stimmen sind miteinbezogen in das Gewebe aus Geräuschen und Musik, das bei allem Assoziationsreichtum auch viel Freiraum lässt.

Wie man solche Musik und Tanz erinnert, das beschäftigt den Zuschauer schon während der Aufführung im Versuch, das Gesehene aufeinander zu beziehen. „Zeit existiert nicht, nur Veränderung“, sagt der immer wieder vortragende Tänzer, wohl wahr, denkt man sich. Und tatsächlich beginnen sich Tanz und Musik in der Erinnerung gleich zu verändern, sich in Wiedererkennbares und Referenzloses zu zerlegen. Dass jede Erinnerung auch eine Erfindung ist, merkt jeder, der versucht Tanz nachzuerzählen.