„Alles vor dem Tod ist Leben“
Die Ganztagstochter

Was tun, wenn Eltern zu Pflegefällen werden? Sollen sie ins Heim oder bleiben sie daheim? Die Frage überfordert viele Kinder. Selten gibt es auf Anhieb die richtige Antwort
Gisela Holzammer hat ihr Leben durchgetaktet wie bei einer Kinderbetreuung. Ihre Mutter hat Alzheimer

„Ich bin ausgebildete Energieberaterin und habe zwölf Jahre gearbeitet, aber nach dem zweiten Kind aufgehört. Jetzt habe ich ja meine Mutter zu pflegen. Vor sieben Jahren wurde bei ihr Alzheimer festgestellt. Wir haben schon immer mit meinen Eltern unter einem Dach gelebt, also war klar, dass meine Mutter bei uns bleibt.

Die psychische Belastung durch die Pflege ist aber sehr hoch und belastet mich mehr als die körperliche Anstrengung. Ich mache meine Mutter morgens fertig, setze sie auf den Toilettenstuhl, bereite dann auch am späteren Nachmittag und am Abend Essen für sie, bringe sie gegen 20 Uhr ins Bett und schaue gegen 23 Uhr noch mal herein. Dabei wechsele ich immer wieder die Windeln. Zwischen 9 und 15 Uhr ist sie in der Tagespflegestätte ‚Wintergarten‘, nur am Wochenende ist meine Mutter zu Hause. Da wir mit ihr kaum noch einen Ausflug machen können, kommen wir am Wochenende eigentlich nicht raus. Mein Mann geht dann alleine spazieren. Ich habe jetzt einen Rollstuhl bestellt, vielleicht wird es dann besser.Unser Leben muss völlig durchorganisiert sein.

Ich muss sagen, es gibt schon Situationen, wo ich Aggressionen kriege und dann aufpassen muss, dass ich mich kontrolliere. Es gab auch schon mal einen Klaps auf die Hand, wenn meine Mutter wieder sich selbst oder irgendwas in der Umgebung mit Essen oder auch mal mit Exkrementen vollgeschmiert hatte. Manchmal am Tisch, wenn ich mich kurz umdrehe, wirft sie Essen, das sie nicht mag, blitzschnell in den Topf zurück. Dann denke ich: ‚Aha, das kann sie ausnutzen. Warum aber kann sie sonst nichts mehr?‘ Das macht mich sauer, dann muss ich mir sagen: ‚Sie kann ja nichts dafür, sie ist doch krank.‘ Meine Mutter spricht kaum noch. Traurig, dass zwischen uns keine Kommunikation mehr da ist. Aber ich glaube, sie erkennt mich noch. Sie sucht eigentlich immer Anschluss, kann nur schwer in ihrem Zimmer im Erdgeschoss allein sein.

Ich habe in der Woche eigentlich nur zwei Termine für mich, dienstags und donnerstags gehe ich zur Gymnastikstunde. Dann passt mein Mann oder einer meiner Söhne auf meine Mutter auf. Ich habe noch einen Bruder, der auch in Berlin lebt. Aber der kümmert sich kaum.

Wenn sie einmal nicht mehr alleine stehen kann und uns nicht mehr erkennt, wäre bei mir der Punkt erreicht, wo ich sie in ein Pflegeheim geben muss. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter, sie war allerdings immer sehr bestimmend. Sie hat früher sehr viel für uns getan, sich um ihre Enkel rührend gekümmert. Sie musste viel einstecken in ihrem Leben. Es würde mich sehr belasten, wenn ich sie weggeben würde.“

PROTOKOLL: BARBARA DRIBBUSCH

Gisela Holzammer, 57 Jahre alt, lebt mit Mann, den erwachsenen Söhnen und der an Alzheimer erkrankten 88-jährigen Mutter in einem Reihenhaus zusammen. Sie ist nicht berufstätig

Die Pflege-WG
Die Autorin Ilse Biberti hat erst ihr Büro zu den Eltern verlegt, dann ihr Bett. Nun kommen auch Pfleger ins Haus

„Im Mai 2005 hatte meine Mutter unerwartet einen Schlaganfall. Zehn Tage danach wurde ich im Krankenhaus gefragt: ‚Wo wollen Sie ihre Mutter hinhaben?‘ Ich war fassungslos. Sie lag hilflos im Bett, ihr Sprachzentrum zerstört. Ich entschied: Meine Mutter kommt nach Hause zu ihrem Mann! Für mich war meine Mutter krank, nicht alt und für immer ein Pflegefall.

Zurück aus der Reha die Situation zu Hause: Mutter konnte nicht sprechen, Vater nicht hören. Ab sofort hatte ich die volle Verantwortung für drei Köpfe, sechs Hände, sechs Füße … Ein mobiler Pflegedienst versorgte meine Mutter am Morgen. Damit ihre Intimität bewahrt bleibt. Die Putzfrau kam viermal die Woche und übernahm das Mittagessen. Mein Vater lernte das Abendbrot hereinzutragen. Zweimal die Woche kam eine Logopädin und eine Physiotherapeutin. Ich war täglich viele Stunden da, in der Nacht standby via Babyfon.

Dann brach ich mir das Fußgelenk. ‚Der Not gehorchend‘ quartierte ich mich auf dem Sofa bei meinen Eltern ein. Ständig vor Ort erkannte ich das wahre Ausmaß ihrer Hilfebedürftigkeit. Meine Mutter brauchte für jeden Toilettengang Unterstützung, mein Vater vagabundierte die ganze Nacht durch die Wohnung.

Der Total-GAU traf uns: Bei meinem Vater wurde Alzheimer festgestellt. Nun war ich nie mehr allein. Das Buch habe ich am Mittagstisch geschrieben, beide Eltern sahen mir zu, schliefen mit offenen Mündern. Manchmal habe ich mich mit dem Laptop auf der Toilette eingeschlossen. Dieses Alleinsein wurde mir für maximal 10 Minuten gegönnt. Mein Vater hatte über Monate eine aggressive Phase. Ich habe auch zurückgeschrien, einmal mit einem Bratenwender auf die Spüle geprügelt. Ich wusste, innerlich hatte ich ihn gemeint. Ich wollte es nicht zum Äußersten kommen lassen, verreiste für eine Woche. Freunde übernahmen meinen ‚Dienst‘.

Nach einem Jahr musste ich die neue Situation akzeptieren: Meine Eltern waren für immer Pflegefälle. Wir sind jetzt eine Familie auf Augenhöhe. Wir lachen und weinen. Ein halbes Jahr später hatte meine Mutter einen weiteren kleinen Schlaganfall. Jetzt lebt sie im Wohnzimmer in einem Pflegebett. Von hier kann sie die ganze Wohnung überblicken. Ich schlafe wieder in meinem Kinderzimmer, ein merkwürdiges Gefühl.

Unser Motto: Alles vor dem Tod ist Leben. Wir wollen es genießen, soweit es geht. Dazu gehört, dass auch ich wieder mein eigenes Leben beginne. Wir haben jetzt mehr Unterstützung: Pflegedienst, Haushaltshilfe, Medizinstudentin für Nachtdienste, ehrenamtliche Hospizbegleitung, Therapeuten, Freunde.“

PROTOKOLL: BARBARA DRIBBUSCH

Ilse Biberti, 49, lebt mit ihrem an Alzheimer erkrankten Vater, 87, und ihrer nach einem Schlaganfall pflegebedürftigen Mutter, 86, zusammen. Sie schrieb die Chronik und den Ratgeber: „Hilfe, meine Eltern sind alt!“

Die Besucherlösung
Brigitte Schäfers Mutter lebt im Heim – gegen ihren Willen. Sie verwahrloste, trotz ambulanter Betreuung

„Das Drama begann vor etwa drei Jahren. Damals war meine Mutter Anfang 70. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, sich und das Haus allein zu versorgen. Doch dann konnte sie nicht mehr kochen und das Haus sauber halten. Sie hatte damals schon eine Pflegestufe und bekam regelmäßig Besuch von Pflegediensten. Aber dann begann meine Mutter, die Pflegedienste nicht mehr reinzulassen, sie verweigerte es, sich waschen zu lassen, sie hat nicht gegessen, sie hat die Medikamente nicht genommen.

Vor eineinhalb Jahren eskalierte die Situation: Meine Mutter kam mehrmals ins Krankenhaus, immer mit den gleichen Symptomen. ‚Körperliche Verwahrlosung‘, sagen die Mediziner. Sie war halb verhungert und verdurstet und hat auch ziemlich viel Alkohol getrunken.

Beim dritten Mal hat das Krankenhaus schließlich eine rechtliche Betreuung beantragt. Ich habe mich gemeldet. Meine Mutter hat auch zugestimmt, ohne zu wissen, was Betreuung bedeutet. Erst einmal ja nur, dass man unterstützend wirkt und nicht gegen den Willen der Person handelt. Aber ich hatte doch das Gefühl, die Rollen sind jetzt vertauscht. Meine Mutter auch. Sie sagte einmal, du bestimmst jetzt für mich.

Damals hatte ich mich schon nach Altenheimen in Krefeld erkundigt. Häusliche Pflege wäre nicht in Frage gekommen, meine Mutter duldete keine Fremden in ihrer Wohnung. Sie zu mir nach Hause zu holen, habe ich nie erwogen. Ein Freund fragte dann: Wieso suchst du nicht ein Heim bei dir in Berlin? Meine Mutter meinte dazu erst, sie möchte überhaupt nicht ins Heim, weder in Berlin noch in Krefeld. Aber nach dem dritten Mal in der Klinik sagte sie: Wenn es mir nicht besser geht, geh ich nach Berlin.

Dann ging alles sehr schnell. Ich habe einen Krankentransport organisiert. Glücklicherweise gab es in dem Altenheim, das ich mir ausgeguckt hatte, auch ein freies Einzelzimmer. Das ist ein Heim gleich bei mir in der Nähe mit einem riesigen Garten.

Am Abend nach dem Umzug habe ich sie besucht. Sie sagte: Bestell mir bitte ein Taxi, ich will zurück nach Krefeld. Bald schaltete sie einen Anwalt ein, der versuchen sollte, mich als Betreuerin des Amtes zu entheben. Sie beauftragte ihre Schwester, sie aus dem Heim zu holen. Es war absurd. Sie hat mich so beschimpft. Ich bin ständig in Tränen ausgebrochen.

Dann wurde es zusehends besser. Die Pflegerinnen haben sich rührend um sie gekümmert und in der ersten Zeit Stunden mit ihr geredet. Sie hat angefangen regelmäßig zu essen. Jetzt wohnt sie schon ein Jahr im Heim. Sie genießt das Gefühl, umsorgt zu werden. Natürlich leidet sie darunter, dass 80 Prozent der Leute ziemlich verwirrt sind. Letztens – das war wirklich ein Meilenstein – ist sie zum ersten Mal allein in den Garten gegangen.“

PROTOKOLL: ANNA LEHMANN

Brigitte Schäfer, 50, lebt mit Tochter und Freund in Berlin-Kreuzberg