Fern der Mehrheit

Michael Benz erzählt, ein wenig zu detailliert, vom widerständigen Leben des Sozialdemokraten Fritz Lamm

VON HEINRICH SENFFT

Dreißig Jahre nach seinem Tod gibt es nun endlich eine Biografie des Sozialdemokraten Fritz Lamm. Gestorben war er in Stuttgart, wohin es den 1911 in Stettin Geborenen nach der Rückkehr aus der Emigration gespült hatte. Seine liberalen und assimilierten Eltern kamen aus dem einflussreichem jüdischen Bürgertum. Der 1866 geborene Vater war Textilkaufmann und heiratete 1906 eine viel jüngere, vermögende Jüdin aus Aachen; 1908 kam die Tochter Dora zur Welt, drei Jahre später der Sohn Fritz.

Zwar hatte der Antisemitismus schon vor dem Ersten Weltkrieg zugenommen, aber das hinderte die deutschjüdische Jugendbewegung vor allem in den Zwanzigerjahren nicht, so nationaldeutsch zu sein, dass man auf die nachgerade obszöne Frage kommen könnte, warum Hitler sie oder auch ältere deutschnationale Juden nicht hat Nazis werden lassen.

Lamm schwamm schon früh gern gegen den Strom und meinte, dass „alle Fortschritte und Entwicklungen […] letzten Endes aus Opposition, aus Unruhe, aus Unzufriedenheit“ kommen. Er fand seine „geistige Heimat“ im Sozialismus, als er achtzehn Jahre alt war; „seitdem bin ich ihr so treu geblieben, wie ich nur konnte“. Das ist das wahrhaft Erstaunliche an diesem Leben, dass ihn nichts von diesem Weg hat abbringen können. 1974, drei Jahre vor seinem Tod, sagte er selbstironisch: „Es ist mir nie gelungen, Mehrheit zu werden.“ Kein Wunder, denn er hatte – stark an Marx gebunden – eine Definition der Linken, die zunehmend in die Isolation geriet: in der modernen Industriegesellschaft „unverminderte Klassengegensätze“ erkennen und die Umwandlung der bürgerlichen in eine sozialistische Demokratie fordern. Linke sollten die internationale Klassenpolitik der nationalen Volkspolitik vorziehen und „gegen den kriegsfördernden platten Antikommunismus“ auftreten.

Von April 1920 an, knapp neunjährig, gehört Lamm – bis 1930 – dem deutschjüdischen Wanderbund „Kameraden“ an. Im Frühjahr 1930 tritt er in die von Erich Ollenhauer geführte Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) und die SPD ein. Wegen des Vorwurfs der „Radikalisierung der Jugend anhand der Schriften von Marx und Engels“ und der Behauptung, er habe immer wieder Konflikte zwischen dem SAJ und der Partei provoziert, gibt es 1931 ein Parteiausschlussverfahren. Aber gleich danach gehört Lamm zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die mit dem stalinistischen Kurs der KPD nichts zu tun haben, aber doch ein Brücke zwischen SPD und KPD bauen will.

Nach Hitlers Regierungsantritt löst sich die SAP im März 1933 selber auf – und im Mai 1933 wird Lamm verhaftet. Wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verurteilt ihn das Reichsgericht 1934 zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis; im Oktober 1935 wird er entlassen.

Im Januar 1936 flieht Lamm in die Schweiz und von dort über Österreich in die Tschechoslowakei. Seine deutsche Staatsangehörigkeit verliert er im Jahr darauf und entweicht nach Frankreich, als Hitler Österreich besetzt. Der SAP-Auslandsorganisation bleibt er aber auch als Vertriebener treu.

Als er 1942 im nicht besetzten Teil Frankreichs unwürdig interniert wird, flüchtet er mit gefälschten Papieren über Spanien nach Kuba, wird dort jedoch wieder interniert. Sechs Monate später kommt er zwar frei, ist aber auf die Hilfe von US-Freunden angewiesen. Einige Zeit danach wird er Gewerkschaftssekretär, Assistent einer Diamantfabrik, dann Buchhalter eines Uhrenimporteurs. Er leidet unter schwerem Asthma und muss Anfang 1945 deshalb operiert werden.

Die USA lassen Lamm nicht einreisen, sodass er bis zum Herbst 1948 in Havanna bleibt und sich entschließt, der SPD beizutreten, weil es zwischen ihr und der KPD keine dritte Partei mehr geben dürfe. Richtig schreibt Benz: „Für die Remigration galt die Faustregel: Je politischer der Grund zur Flucht, desto größer die Motivation und der Wunsch zur schnellen Rückkehr“ – und natürlich war auch die Sprache ein Motiv. In Deutschland bietet ihm die Stuttgarter Zeitung eine Stelle als Redaktionssekretär an – und so kann er zurückkehren. Wohl ist ihm nicht dabei: „Das Widerlichste am Deutschen ist meist seine Furcht, sein Mangel an individuellem Mut – und dafür die Gegenseite: die kollektive Grausamkeit.“

Lamm macht nicht wie Willy Brandt und andere politische Flüchtlinge strahlende Karriere: Wie die meisten ehemaligen SAP-Mitglieder übernimmt er eher niedrige Posten. Bei der Stuttgarter Zeitung war es für ihn auch nicht einfach, denn aus dem linksliberalen Blatt wurde, milde gesagt, eine konservative Zeitung, in der er – dennoch oder deswegen? – zweimal zum Betriebsratsvorsitzenden avancierte.

Über die SPD dachte er nicht gerade freundlich; sie sei „absolut steril, ohne eigene Perspektiven und Grundsätze – wesentlich spießiger als vor 1933, noch aufgeschwollener mit großrednerischen Phrasen und noch feiger in den Konsequenzen“. Dennoch engagiert sich Lamm in der Stuttgarter SPD, ist aber auch Vorstandsmitglied der „Sozialistischen Fördergemeinschaft“ – nach deren Umwandlung in den „Sozialistischen Bund“ (SB) nur noch einfaches Mitglied. Der Parteivorstand der SPD hat indessen beschlossen, die Mitgliedschaft im SB sei unvereinbar mit der in der SPD – und 1963 wird Lamm wieder einmal aus der SPD ausgeschlossen. Er wird Mentor des SDS, lehnt aber die zunehmende Radikalisierung und die RAF ab.

Das war ein so einzigartiges Leben voller Charakterstärke, Anstand und Selbstaufopferung, dass man seiner Schilderung eine weniger große Fleißarbeit gewünscht hätte, als sie uns Michael Benz in seiner Dissertation präsentiert. In sie scheint er fast alles hineingestopft zu haben, was ihm in die Hände fiel: Beim Lesen der über 500 Seiten muss man öfter seufzen ob der Datenfülle, kann aber doch nicht aufhören, weil man immer wieder die Fassung verliert: In Lamm spiegelt sich eben die ganze Misere der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Umso ergreifender ist es, von Lamms beispielhaftem, im besten Sinne tapferem politischem Leben zu lesen.

Michael Benz: „Der unbequeme Streiter: Fritz Lamm, Jude, Linkssozialist, Emigrant. 1911–1977. Eine politische Biographie“. Klartext Verlag, Essen 2007, 552 Seiten, 29,90 €