Keiner entkommt der Erinnerung

THEATER Für ihren neuen Roman wurde Nino Haratischwili hoch gelobt. Nun hat das Deutsche Theater Berlin „Land der ersten Dinge“ uraufgeführt – ihr neues Drama über deutsche und sowjetische Vergangenheit

Sich erinnern – das können vielleicht nur Menschen gut, die von einer schönen Vergangenheit zehren. Die anderen, die an Verrat, an Schuld schwer zu tragen haben, weichen der Erinnerung aus. Und träumen sich in das Land der ersten Dinge: „Hier soll alles zum ersten Mal passieren, nichts soll sich wiederholen, und alles, was uns traurig macht, soll man hier vergessen.“

So jedenfalls träumt Lara – alt, ans Bett gefesselt – in dem neuen Stück von Nino Haratischwili, das Brit Bartkowiak nun in der Box des Deutschen Theaters uraufgeführt hat. Titel: „Das Land der ersten Dinge“. Es ist Teil des Projekts „The Art of Ageing“ von der European Theatre Convention: Europäische Theater erarbeiten bilaterale Inszenierungen zum Thema Überalterung der Gesellschaft. In Berlin kooperiert man mit dem Slowakischen Nationaltheater in Bratislava.

Es besteht also eine inhaltliche Vorgabe, die zudem Schauspieler zweier Sprachen berücksichtigen muss – Raum zum Ausprobieren bleibt da wenig. Doch Nino Haratischwili, die mit ihrem opulenten Roman „Das achte Leben“ das Feuilleton begeisterte, ist ohnehin keine Autorin des formalen Experiments. Ihre Stärke liegt in der Vielschichtigkeit der Figuren, den unverbrauchten, poetischen Worten, der inhaltlichen Substanz. Haratischwili will Geschichten erzählen. Also entwirft sie ein Kammerspiel, in dem sich zwei Frauen an das Leben in gegensätzlichen politischen Systemen erinnern – so wie sie auch im Roman die Sowjetvergangenheit anhand großer Frauenfiguren auferstehen lässt. Ein Bühnenstück muss reduzierter sein, das Handeln ersetzt Haratischwili durchs Eintauchen in die Erinnerung – das aber mit kräftigen Dialogen.

Lara tauschte ihre linken Ideale der 1968er gegen eine Karriere als Richterin, um ihrer Tochter etwas bieten zu können. Natalia, ihre slowakische Pflegerin, stieg zu Zeiten der Sowjetunion zur Erfolgsmusikerin auf, weil ihr Mann als Spitzel dem Staat diente. Während Natalia das repressive System gern gegen die schönen Hotelzimmer in Paris und Rom getauscht hat, idealisiert Lara den Sozialismus noch heute. Nun soll Natalia Lara pflegen, doch die will keine Hilfe benötigen. Sie giften sich an, dabei haben sie vieles gemeinsam. Beide haben ihre Ideale verraten und dafür einen hohen Preis gezahlt – Natalia hat ihren Mann verloren, Lara ihren Enkel. Beide leiden an ihrer Erinnerung wie an einem Phantomschmerz.

Auch Bartkowiak neigt nicht zu Formspielereien und hat (mit dem Bühnenbildner Nikolaus Frinke) schlicht ein Klinikbett auf die Bühne gestellt, einen Fernseher, eine Badewanne – hier zicken sie sich an, die arrogante, zynische Lara, bei Gabriele Heinz ein resoluter Haudegen, und die leidgeprüfte Natalia. Soll Lara etwas nicht verstehen, spricht Natalia slowakisch – fürs Publikum werden Übertitel eingeblendet. EmíliaVášáryová vom Nationaltheater in Bratislava sprüht dabei vor Wut, ist plötzlich den Tränen nah und zieht dann resigniert die Brauen hoch. Man spürt die Vergangenheit in ihr rumoren, Vášáryová würgt an ihr und spuckt dabei die Phantome aus. Wie im Traum spricht sie mit ihrem toten Mann, der mit Dušan Jamrich leibhaftig auf der Bühne von den Toten spricht und von seiner Schuld an deren Schicksal. Starke Momente. Erst hält einen der fremde Klang der Sprache auf Distanz, dann öffnet sich eine Welt hinter den Worten.

Auch Lara muss sich den unbequemen Fragen ihres Enkels stellen, der als Geist im Zimmer steht – letztlich entkommt der Erinnerung keiner. Das Land der ersten Dinge aber gibt es wirklich. Am Ende enthüllt ein Vorhang den Panoramablick auf die leuchtende Wüste, auf unendliche Weite, auf einen Weg hindurch. Ein Traum, ein Ausblick aufs Paradies – jenseits dieser Welt. BARBARA BEHRENDT