Der Oranienplatz als Readymade

Die Leitung der Sophiensæle verabschiedet sich mit gleich drei Inszenierungen im urbanen Raum. Helmut Köppings „Nicht einmal Hundescheiße“ fragt nach dem Sinn des Dokumentarischen: Hilft es uns was?

Eine unspektakuläre Ecke, wie es viele gibt in Berlin, rechts ein Gebäude, links einige Bäume, davor eine kopfsteingepflasterte Straßenbiegung. „Nicht einmal Hundescheiße“ heißt die Inszenierung des Grazers Helmut Köpping und seines Ensembles, die hier zu sehen ist. Das Publikum sitzt im ersten Stock eines Bürohauses am Oranienplatz und schaut hinunter auf die Straße.

Die irritierende Wechselwirkung von Alltagsszenerie und Theater beginnt schon mit dem Warten auf den Anfang. Ist der telefonierende Mann im Fenster gegenüber inszeniert? Die hinkende Frau mit den Pfandflaschen? Der Herr, der behutsam einen Kaktus vor sich her trägt? Ein verunsichernder Effekt, vergleichbar dem Readymade, das Alltagsgegenstände zur Kunst erklärt. In der Erwartung des theatralen Ereignisses beginnt der Zuschauer, das Alltagsgeschehen vor ihm poetisch zu überhöhen, sieht die Welt als Bühne. Kunst, das zeigt sich hier einmal mehr, entsteht als Folge des Kontexts.

Mit dem Projekt „Stadttheater – Berlin als Bühne“ verabschiedet sich das Leitungsteam um Amelie Deuflhard nach sieben Jahren von den Sophiensælen. Seit der Gründung bespielte man immer wieder öffentliche Räume. Zudem gab es zahlreiche ortsspezifische Zwischennutzungen, darunter die beiden Jahre im Palast der Republik.

Die drei letzten Inszenierungen rücken alltägliche Plätze in den Fokus. Während das Publikum am Oranienplatz die Position einer versteckten Kamera einnimmt, wird es in „Funnysorry Jesus“ der norwegischen Performancetruppe Baktruppen geradezu exponiert. Hier sitzen die Zuschauer gut sichtbar in einem Showroom an der Rosa-Luxemburg-Straße, die Akteure hingegen befinden sich auf der Straße. „Braakland“ schließlich, eine Inszenierung der flämischen Regisseurin Lotte van den Berg, spielt auf einer Industriebrache von der Größe mehrerer Fußballfelder am Stadtrand.

„Ortsspezifische Arbeiten versuchen, eine besondere Reibungsfläche zur sozialen Realität herzustellen“, sagt Dramaturg Thomas Frank. Das Spiel mit dem Authentizitätseffekt klappt allerdings nicht so ganz bei der Premiere des Grazer Ensembles in Kreuzberg. Heftiger Regen vertreibt die Leute von der Straße, die Akteurinnen hüllen sich in Plastikcapes, und die wenigen Kreuzberger, die mit Tüten über dem Kopf ins Trockene hasten, reagieren kaum auf die vier Frauen, die vor sich hin sprechen, singen und Gitarre spielen. Offensichtlich ist man hier gewohnt, dass Menschen auf der Straße seltsame Dinge tun. Auch der Plot hat mit dem Dokumentarischen zu tun: Eine Frau mittleren Alters will einen Film drehen, ein Porträt ihrer Generation. Sie befragt drei vorgebliche Passantinnen zu allen möglichen Themen, Fortpflanzung, Evolution, die Sehnsucht der Zivilisierten nach dem Ursprünglichen. In einer Mischung von privater Plauderei und pseudowissenschaftlichem Jargon diskutieren sie die großen Fragen, agieren synchron zur voraufgezeichneten Tonspur und spielen damit, das scheinbar Authentische immer wieder als künstlerisches Mittel zu entlarven.

Ist man der sozialen Wirklichkeit nun aber näher gekommen, indem man die Straße als Bühne betrachtet? Auch darüber diskutiert das Quartett. Das filmische Porträt sei ja schon irgendwie engagiert, sagt dann eine der Schauspielerinnen. „Aber glaubst du, dass es die Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung hat?“ Die Antwort lautet: „Es geht nur um Unterhaltung. Dennoch hat die auf manche Menschen eine Wirkung, befreit sie von einer Depression. Oder es treibt sie in die Depression. Je nachdem.“ Nach dieser Relativierung des Anliegens lautet die simple Botschaft dieses Abends: Es gibt keine Authentizität, und auf dem Heimweg durch das ganz normale Kreuzberger Alltagstheater wirkt nun selbst der Buschauffeur wie ein verkappter Schauspieler. Irene Grüter

„Stadttheater – Berlin als Bühne“. 21. 6.–1. 7. 2007. Programm: www.sophiensaele.de