Perfekte Mischung aus Kamel und Auto

„Das Abenteuer als Selbstzweck ist bescheuert“, sagt Michael Martin, der mehr als 70-mal mit dem Motorrad durch die Wüsten der Welt gereist ist. Einmal haben ihm Schmuggler an der Grenze zwischen Tschad und Sudan einen geplatzten Reifen wieder zusammengenäht. Er hielt bis München

Als Junge hatte er mit dem Astrokasten den Himmel über Bayern erkundet

VON ULRIKE FOKKEN

Nach dem Prickeln sehnt sich Michael Martin manchmal. Die Bläschen in einem kalten Mineralwasser vermisst er tatsächlich, wenn er wochenlang mit der Enduro durch die Wüste reist. Nach Tagen in Australiens Great Sandy Desert, in der ihm während einer Woche nur Dingos und Skorpione begegnet sind, nach den Nächten im Zelt mit Minus 20 Grad Celsius auf dem bolivianischen Altiplano, nach Hitze, Staub, Brühwürfelsuppe im Himalaya und drei Wochen Nudeln mit Tomatensoße in der Sahara freut sich Michael Martin am meisten auf ein Glas sprudelndes Mineralwasser. „Das ist fast Luxus“, sagt er am Esstisch in seiner Edelstahlküche in München und schmeckt dem Wasser aus seinem Glas nach, als wäre es ein seltener Wein.

Für derlei Extravaganzen hatten Michael Martin und seine Lebensgefährtin, die Kamerafrau Elke Wallner, auf der BMW 1150 GS selbstverständlich keinen Platz. Nicht einmal ein zweites T-Shirt, geschweige denn eine Ersatzhose passten in die Alukoffer, aus denen die beiden während ihrer 100.000 Kilometer durch die Wüsten der Welt gelebt haben. „Man kann ja jederzeit alles waschen“, sagt Martin. Wenn es kalt war, haben sie alle Kleidungstücke übereinander getragen, wenn es heiß wurde, sie eben zwischen Foto- und komplette Kameraausrüstung, Zelt, Schlafsäcke, Isomatten, Kocher, Lebensmittel, Wasservorrat und den 20-Liter-Benzinkanister gestopft. Und ein Buch? Nein, sie hatten auch keine Sonnencreme dabei. Werkzeug? Ersatzteile? „Minimal“, sagt Martin, der aus der sudanesischen Sahara bis nach München mit einem genähten Vorderreifen gefahren ist. Schmuggler im Grenzgebiet zwischen Tschad und Sudan hatten Löcher in den aufplatzenden Reifen gebohrt und alles ordentlich mit Nylonfaden vernäht.

„Das Abenteuer als Selbstzweck ist bescheuert“, findet Martin, den nicht die Abenteuerlust in die Ferne lockte, sondern die Sterne. Als Junge hatte er mit dem Kosmos-Astrokasten fremde Welten entdeckt und den Himmel über Bayern erkundet. Mit 15 Jahren zogen ihn dann die verheißungsvollen Himmelsbilder Spaniens gen Süden. „Einmal wollte ich den Südsternhimmel sehen“, sagt Michael Martin und seine blauen Augen leuchten, wie sie wohl auch damals vor 28 Jahren geblitzt haben, als er seinen beunruhigten Eltern von dem Plan erzählte. Sie ließen ihn ziehen. Sie ließen ihn auch ein Jahr später mit dem Fahrrad die Alpen überqueren und resignierten schließlich vor seinem Enthusiasmus mit dem er ihnen unterbreitete, mit dem Mofa von München nach Marokko zu fahren. Sein bester Freund würde auch mitkommen. Eigentlich wollte der damals siebzehnjährige Michael Martin auch nach Marokko mit dem Rad, aber ein Knie war lädiert. „Afrika ist mein Leben“, sagt Martin und guckt einen Moment gedankenversunken über den Garten in dem Münchner Vorort, als überblicke er die Weite der Sahara.

Mehr als 70-mal ist der Diplomgeograf seitdem nach Afrika gefahren, hat zwischen 1996 und 1998 alle Wüsten des Kontinents durchmessen, von den Reisen durch Süd- und Nordamerika, Australien und die Wüsten Asiens ganz zu schweigen. Mit dem Mofa hat er es nie wieder versucht, aber mit einem billigen Kadett und einem VW-Bus, den er sich als gerade 18-Jähriger für 100 Mark leisten konnte. Der Peugeot 504, den Martin als Student fuhr, hat immerhin 16 Reisen über die Schotter- und Sandpisten der Sahara mitgemacht und steht nach einem Motorschaden immer noch in den Dünen an der Hoggar Route in Algerien. Der Geländewagen später war schon richtig professionell. Aber eigentlich unpraktisch, denn Michael Martin ist zurückhaltend. Und wenn er als weißer Mann mit 1,88 Meter und schulterlangen braunen Locken sich einem Nomadenzelt in der Wüste nähert, möchte er nicht mehr auffallen als unbedingt nötig.

Er parkt die Enduro dann weit entfernt. Und steht erst mal so ein bisschen in der Wüste rum. Übrigens nie in Lederkombi oder in Plastikklamotten, „das wirkt zu martialisch und schüchtert die Menschen ein“. Wenn die Bewohner der Wüste ihn lange genug aus der Entfernung sehen konnten, nähert er sich und überzeugt sie mit einem offenen Lachen von seiner friedlichen Absicht. Die Kamera hat er dann noch nicht dabei. „Man muss erst mit den Leuten reden und ihnen das Gefühl geben, dass man sie ernst nimmt“, sagt Martin. Später, wenn das Vertrauen mit Tee und Brot in Buttersoße unterfüttert ist, macht er dann vielleicht ein Polaroidfoto von seinen Gastgebern, die sich manchmal seit Jahren nicht selbst gesehen haben. Dann kann Michael Martin auch die Kamera holen und fotografieren.

„Das Wichtigste in der Wüste sind die Menschen“, sagt Martin. Er hat die Länder nicht mit der Schaufel durchgraben, sondern mit dem Auge und mit den Sinnen. Deswegen fährt er auch nur noch Motorrad. „Ich bin näher an der Natur und den Menschen, bemerke jeden Temperaturunterschied, jeden Geruch und jede Änderung der Bodenbeschaffenheit“, sagt er. „Und die Einheimischen reagieren sehr positiv auf das Motorrad.“ An manch einer Grenze war die große Enduro sogar eine „perfekte Tarnung“: Die Zöllner bestaunten das Motorrad und übersahen Kamera, Mikrofone und Filme, die Martin und Wallner in manchen Ländern gar nicht hätten einführen können.

Die Wüste und die von ihr geprägten „starken Charaktere“ faszinieren Michael Martin und deshalb will er nach der geografischen Erkundung der Wüsten noch einmal aufbrechen, um nur die Menschen und ihr Leben in diesen extremen Landstrichen zu fotografieren. In seinem „Lebenswerk“, dem mehrfach ausgezeichneten Buch „Die Wüsten der Erde“, sind solche Begegnungen zu sehen. Nicht geschönt, nicht exotisch dargestellt, nicht romantisiert.

Wenn die San in der Kalahari nicht mehr mit Pfeil und Bogen jagen, bittet Michael Martin sie nicht, ihm eine folkloristische Szene vorzuspielen. Er fotografiert sie am Feuer, während sie in einem schwarzen Emailletopf aus den Lebensmittelrationen der Regierung eine Mahlzeit kochen. Er besucht die Gemüseverkäuferin Rose in ihrem Haus aus Pappe und Wellblech in den Slums von Nairobi und fotografiert sie vor der Tapete aus Zeitungsbildern.

Wann Michael Martin wieder aufbrechen wird, ist noch nicht ganz klar. Aber selbstverständlich mit dem Motorrad. „Das ist die perfekte Mischung zwischen Kamel und Allradauto.“