Der Stuggy-Poker

Es ist Sommer, ein verflucht heißer Sommer: In Stuggy Town läuft seit einer halben Ewigkeit ein beinharter Poker. Gespielt wird um schwindelerregend hohe Summen, mit allen Tricks. Die Menschen in dieser verdammten Stadt spüren: Der Poker geht in seine entscheidende Runde. Selbst der Friedensrichter, den sie Hein, das Schlitzohr, nennen, ahnt Böses. High Noon. Eine Story aus dem wilden Südwesten, bei der die Leserinnen und Leser der Kontext:Wochenzeitung sogar etwas gewinnen können

von Rainer Nübel

Die beiden Männer saßen sich gegenüber, regungslos, mit starren Mienen, in denen sich Misstrauen eingegraben hatte. In ihren Köpfen schien es zu arbeiten: Was wird der andere jetzt tun, welches Manöver plant er, welches Blatt hat er auf der Hand? Sie ließen sich nicht aus den Augen. Sobald der eine nur die Andeutung einer Bewegung machte, zuckten die Augenbrauen des anderen. Es war gefährlich still. Den Zuschauern stockte der Atem. Sie hatten sich hinter ihren jeweiligen Helden versammelt und feuerten ihre Blicke auf die andere Seite, auf die ihrer Gegner.

Die Sonne brannte. Es war Sommer in Stuggy Town, und jedem in dieser verdammten Stadt schien klar zu sein: Es war der Sommer der Entscheidung. Beide Seiten pokerten hoch, sehr hoch. Da bahnte sich was an. Dieses Spiel stand auf des Messers Schneide.

Winny the Kid strich sich langsam über seinen kahlen Kopf, er mahlte mit den Zähnen, schnitzte sein gefürchtetes Grinsen ins Gesicht, dann zischte er mit tonloser Stimme: „Diese Stadt ist zu klein für uns zwei.“

Railway-Gruby, den man auch The Digger nannte, weil er ständig am Graben war, lächelte sein kühlstes Lächeln, während er die rechte Hand am Kinn rieb. Seine blauen Augen blitzten, als er aufreizend gelassen den Kopf schüttelte: „Vergiss es, Winny, du bist und bleibst ein Greenhorn. Und Greenhorns werden nie oben bleiben.“

Gezinkte Karten und selbst gebastelte Steckbriefe

Seit einer halben Ewigkeit schon saßen sich die beiden Männer gegenüber und spielten dieses beinharte Spiel um immer höhere, schwindelerregende Summen. Zunächst hatten sie es in dunklen Hinterzimmern gespielt, unter matten Funzeln, die nur ihre Köpfe ausleuchteten, die sie sich heißgeredet hatten in all den Pokerrunden. Längst aber hatte das Duell von Stuggy Town die Menschen aus allen Teilen des wilden Südwestens angelockt. Sie waren in die verdammte Stadt geströmt und wollten dabei sein, wenn die Karten gemischt und ausgeteilt wurden für den Showdown. High Noon.

Und es wurde kräftig ausgeteilt in diesem Sommer der Entscheidung. „Ihr spielt mit gezinkten Karten, ihr Gauner“, schrien die Freunde von Winny the Kid und hielten wild fuchtelnd selbst gebastelte Steckbriefe in die Höhe. Den von Railway-Gruby, dem Digger aus der großen Stadt am Spree River, der früher selbst in Stuggy Town gelebt und riesige Kutschen gebaut hatte, und seinem Kumpel Volky, dem Lächler. Das ließen die beiden nicht auf sich sitzen. „Ihr verdummt doch bloß die Leute, weil ihr wisst, dass wir die besseren Karten haben“, attackierten sie Winny the Kid und dessen Boss, der aus einem kleinen Nest in der Prärie stammte und es bei den Greenhorns zum Anführer geschafft hatte.

Jetzt lief die letzte Pokerrunde. Die Regeln hatte ein alter Friedensrichter bestimmt, den sie aus einer Blockhütte gezerrt hatten, ein Mann mit lederner Haut und listigen Augen, der früher als knallharter Law-and-Order-Kerl gefürchtet war. Kaum einer schoss mit Worten so schnell wie er. Sie nannten ihn Hein, das Schlitzohr. „Denkt daran, ihr verfluchten Streithähne“, hatte er die Pokerrunde gemahnt, „keine faulen Tricks, keine falschen Beschuldigungen, und lasst die Colts sitzen. Wer das bessere Blatt hat, soll gewinnen.“

Das waren weise Worte. Doch das Spiel in Stuggy Town war längst ein schmutziges geworden. Viele im wilden Südwesten vergaßen nicht den Tag, an dem die Sheriffs und deren Männer hart durchgegriffen und auf empörte Gegner der Railway-Gang eingeprügelt hatten. Der Marshal, der damals im wilden Südwesten das Sagen gehabt hatte, ein bulliger Typ mit scharfen Sporen an den schwarzen Stiefeln, war inzwischen in die Wüste geschickt worden. Zusammen mit einer toughen Frau, die sie fast ehrfürchtig „die Klapperschlange“ nannten. Jetzt bestimmten die Greenhorns im wilden Südwesten. Sie waren mit Rothäuten, die eigentlich recht blass aussahen, eine Blutsbrüderschaft eingegangen. Was für die Greenhorns allerdings nicht nur die helle Freude war. Denn die blassen Rothäute, die ihre Felle davonschwimmen sahen, bestanden darauf, dass alle Bleichgesichter und Indianer im Land zusammengetrommelt werden. Am Ende sollten sie den Gewinner dieses Duells bestimmen, indem jeder die Hand hob. Dies, so befürchteten die Greenhorns, könnte der Railway-Gang wie Whiskey reinlaufen.

In den blauen Augen von Railway-Gruby schien tatsächlich etwas Triumphales zu liegen, als er sein Blatt ganz langsam auffächerte und sich dabei genüsslich am Kinn kratzte. „Das sieht schwer nach einem Full House aus.“ Railway-Gruby kostete den flackernden Blick seines Gegenübers aus. „Gehst du mit, Greenhorn?“

Winny the Kid strich sich über den kahlen Kopf. Seine Hand zitterte leicht. Als er seine Karten aufnahm und jede einzelne betrachtete, das Blatt wieder zusammenschob und neu sortierte, wich das gefürchtete Grinsen aus seinem Gesicht. Verstohlen blickte er in den Ärmel seiner Präriejacke. Dabei wirkte er für einen Moment enttäuscht, fast deprimiert. Schnell aber setzte Winny the Kid sein Pokerface wieder auf, mahlte mit den Zähnen und zischte mit tonloser Stimme: „Du bluffst doch nur. Tatsächlich hast du höchstens eine Straße.“ Jetzt grinste Winny the Kid wieder sein gefürchtetes Grinsen: „Eine Verliererstraße.“ Seine Freunde johlten.

Der Friedensrichter gießt Öl ins Feuer

Railway-Gruby, den man auch The Digger nannte, hatte nicht bemerkt, was einige Zeit zuvor auf seiner Seite des Pokertischs vorgegangen war. Er hatte nicht den fremden Mann hinter sich gesehen, der einen Spiegel in der Hand hielt und ihn so drehte, dass auf der anderen Seite Grubys Blatt zu sehen war.

The Digger hatte noch immer etwas Triumphales in den blauen Augen, als sein Gegenüber plötzlich mit dem Finger auf ihn zeigte. „Deine Karten sind viel, viel schlechter, als du vorgibst“, rief Winny the Kid, „ich weiß es ganz genau!“ Jetzt verengten sich die Augen von Railway-Gruby. Hektisch begann er sich am Kinn zu kratzen, während er hinter sich blickte, misstrauisch und zunehmend missmutig. Er schien lange zu überlegen. Dann winkte er mit einer weit ausholenden Bewegung ab: „Vergiss es, das war mein altes Blatt. Du willst nur ablenken.“ Winny the Kid stierte ihn an: „Gib auf!“ Railway-Gruby stierte zurück: „Wir ziehen das durch!“

Tatsächlich stammten die Karten, die der Spiegel eingefangen hatte, aus einer früheren Runde dieses beinharten Spiels. Und ein anderer Fremder, den die Gegner der Railway-Gang Arno, The Smoking Gun, nannten, hatte sie längst schon aufgedeckt. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Das Poker-Publikum auf beiden Seiten des Tischs begann sich gegenseitig anzuschreien, aus vollem Hals und wild gestikulierend. Die Gegner der Railway-Gang, von denen manche in Zelten wohnten, hielten wieder ihre selbst gebastelten Steckbriefe von Gruby und dessen Kumpel Volky, dem Lächler, in die Höhe und schrien „Haut ab, ihr Gauner!“.

In Stuggy Town war wieder der Teufel los, wie schon seit einer halben Ewigkeit. Hilfssheriffs griffen ein, einer wurde verprügelt, als er seinen Stern zeigte. Die Railway-Gang schrie Zeter und Mordio, die Greenhorns seien schuld. „So geht das nicht“, rief der Friedensrichter, der aus seiner Blockhütte herbeigeeilt war, „denkt daran, was wir abgemacht haben.“ Doch der alte Law-and-order-Mann mit der ledernen Haut und den listigen Augen, den sie Hein, das Schlitzohr, nannten, goss selbst noch Öl ins Feuer: „Die Railway-Gang wird gewinnen.“

Zwölf Uhr mittags, an den Gleisen

Winny the Kid und Railway-Gruby schauten sich in die Augen, voller Misstrauen, das sich längst in ihre starren Mienen gegraben hatte. „Du hast schon immer falschgespielt“, sagte Winny the Kid, „hier ist der Beweis.“ Er zog verknitterte Papiere aus der Tasche, die ein Kumpel im Keller des Saloons gefunden hatte, und knallte sie auf den Tisch. Eine Menge Zahlen standen darauf. „Lass uns das wie Männer lösen“, zischte Winny the Kid und verzichtete darauf, sich über den kahlen Kopf zu streichen. Auch Railway-Gruby hörte auf, sich am Kinn zu kratzen. Er nickte nur kurz. „Morgen, zwölf Uhr mittags, an den Gleisen.“

Die Sonne stand hoch in Stuggy Town, an diesem heißen Sommertag der Entscheidung. Die ganze verdammte Stadt und der halbe wilde Südwesten waren auf den Beinen, alle strömten zu den Gleisen, stellten sich dort auf. Als die beiden Männer auftauchten, wurde es auf einen Schlag still. Man hätte das Fallen einer Kastanie hören können, wenn es zu dieser Zeit schon Kastanien gegeben hätte. So still war es. Winny the Kid kam von der einen, Railway-Gruby von der anderen Seite. Beide gingen ein paar Meter aufeinander zu, dann blieben sie stehen. Irgendjemand pfiff, ganz leise, eine Melodie, die vielen verflucht bekannt vorkam. Doch dann brach auch diese Melodie ab.

An der Bahnhofsuhr zitterte sich der Zeiger auf die zwölf. Die zwei Männer griffen an ihre Taschen. Zuschauer pressten ihre Hände auf den Mund. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Beide Männer zogen in derselben Sekunde – mit einem dumpfen Knall schossen Tintenpatronen aus den Taschen, Gutachterpapiere, Gegengutachten, Wegepläne, Aktennotizen, Kostenrechnungen, Strategiepapiere, Parlamentsanfragen, Expertisen, Klageschriften, Stellungnahmen, Konferenzprotokolle, Gesprächsnotizen, Korrespondenzen, Sprechzettel, Prüfpapiere, Pressemitteilungen, Zeitungsberichte.

Ein Windstoß fegte durch Stuggy Town. Die ganze verdammte Stadt lag unter einer dicken grauen Papierschicht. Irgendjemand pfiff eine Melodie, die einem verflucht bekannt vorkam.

Wer sechs der acht Westernhelden in dieser Geschichte erkannt hat, kann bis Dienstag, 26. Juli, 12 Uhr mittags, eine Mail schicken an redaktion@kontextwochenzeitung.de – nach dem Muster: „Winny the Kid ist …“ Der Gewinner wird ausgelost und erhält eine Flasche Whiskey aus Schwaben (der Rechtsweg ist ausgeschlossen).