Nazi-Punk in Oberfranken

BAYREUTH Die Wagner-Festspiele stehen vor der Tür. Unser Autor erklärt, warum er dieses Jahr in Neukölln bleibt

■  Der Termin: Am Montag werden die 100. Richard-Wagner-Festspiele mit der Neuinszenierung von „Tannhäuser“ eröffnet (Regie: Sebastian Baumgarten) Keine Karte? Arte überträgt „Lohengrin“ am 14. August live, zeitgleich gibt es ein „Public Viewing“ auf dem Bayreuther Volksfestplatz.

■  Neukölln: In der Neuköllner Oper (Berlin-Neukölln) ist der Schauspieler Stefan Kaminski noch bis zum 30. Juli mit seinem „Ring des Nibelungen“ nach Richard Wagner zu sehen. Eine Low-Budget-Version des großen Bombasts (mit Zwergen-HipHop). Karten: www.neukoellneroper.de

VON ULI HANNEMANN

Fast dreißig Jahre lang fuhr ich regelmäßig zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth. Allein das Ritual der mühseligen Anreise machte die Aussicht auf den Genuss germanischen Getöses zu Ehren des ambitionierten Antisemiten umso verlockender. Wie jubelte jeden Sommer mein Herz, sobald in der Ferne endlich die grauen Neubauten am Rande des gottverlassenen und zugleich doch derart gebenedeiten oberfränkischen Kuhkaffs auftauchten.

Ausgestorben lagen die Baumärkte in der flirrenden Nachmittagssonne. Ferienzeit in Bayern. Am blauen Augusthimmel langweilten sich die Wolken schier zu Tode, nur ein paar Staubmäuse badeten mit leiser Wonne in einer schimmernden Fata Morgana. An dieser Stelle nahmen mich stets Wotan, Wirrkopf und Wendelina in Empfang, die Urstiefkinder Richards, die ich schon beim ersten Presseempfang kennengelernt hatte. Und ab ging es in die „Pension Tannhäuser“ der alten Frau Greiner, der (und ihrer vorzüglichen Marmelade: Bad Schwartau, Aprikose) ich seit meinem ersten Aufenthalt fest die Treue hielt. Einen Monat lang jagte nun eine Party die andere. Das werde ich in Zukunft am meisten vermissen: Aperol-Weißbier und großartige Leckereien wie Hummerleberkäs sowie „Schweinderl streck di“, ein erlesenes Viererlei aus selten verwendeten Teilen vom Schwein: Nebenniere, Fersenbein, Blinddarm und Halskrause.

Nichts Ungeschlachtes

Pudelwohl fühlte ich mich unter meinesgleichen, denn bei aller Liebe zur Nation schätze ich dumpfen Faschismus in Gestalt primitiver Schläger recht gering. Das Ungeschlachte ist mir fremd – man könnte fast sagen, es macht mir Angst. Schließlich stamme auch ich aus gutem Elternhause (Latein, Blockflöte, Messer und Gabel). Viel näher sind mir daher meine elitären Musikfreunde, die unter dem schützenden Schleier einer dezent braunen Bombastästhetik ihren Traum von einer Oligarchie der Privilegierten leben. Egal ob Blut-, Geld- oder Bodenadel: Hier hasst man noch im Flüsterton, hier rülpst keiner laut in Bierdosen. Für Lärm und Wut ist in Bayreuth exklusiv der Meister zuständig.

Uns alle verband der sich aus Verachtung speisende Widerwille gegen den Normalbürger und sein „Leben“. Wir wünschten uns die Welt als Carrerarennbahn aus sterbenden Gladiolen, auf der König Ludwig II. von Bayern, den faulenden letzten Zahn bleckend, durch die bittersüße Dunkelheit herbeirasen würde, die Banalen zu richten und uns zu belohnen. Soundtrack: natürlich Richard Wagner.

Doch seit den Neunziger Jahren geht es zunehmend bergab. Ein zerstörerischer Zeitgeist macht sich auch in Bayreuth breit. Gleichmacherei, Sozialneid, Menschenmief. Spätestens mit der künstlerischen Leitung des „Parsifal“ durch Christoph Schlingensief musste ich mich ernsthaft fragen: Ist das hier überhaupt noch mein heiliges Bayreuth?

Das Bayreuth der Müßiggänger und Wichtigtuer? Der postmonarchistischen „Kini“- und Wagnerfans, die noch heute die Folgen von Französischer Revolution und Sozialgesetzgebung betrauern? Der interessanten Mixtur aus – als Bundespolitiker und CSU-Funktionäre getarnten – Zuhältern, Spekulanten und Waffenhändlern? Würde ich hier weiterhin in Ruhe Hoher unter Hohen bleiben können, oder würde die verfluchte Neuzeit alles wegspülen, was uns Festspielbesuchern lieb und teuer ist: die Klassengesellschaft, das Schranzenwesen, das deutschtümelnde Pathos, die an Joseph Blatter oder Robert Mugabe erinnernde „Kartenverteilung“ – anachronistische und herrlich parasitäre Systeme, von denen ja auch nicht zuletzt ich selbst jahrelang profitierte?

Hier rülpst keiner laut in Bierdosen. Für Lärm und Wut ist in Bayreuth exklusiv der Meister zuständig

Holzklasse des Lebens

Die Schraube aus Modernisierungen, „Regieeinfällen“ und „ironischen Brüchen“, eine schamlose Verhottentottisierung der Festspiele, dreht sich weiter, und wie auch in der arabischen Welt ist das Internet ganz vorne mit dabei, die gute alte Ordnung zu verheeren. So werden auch für die Holzklasse des Lebens inzwischen ganze Aufführungen auf den Volksfestplatz in Bayreuth übertragen. Das Internet ist ein Teufel. Doch damit längst nicht genug: Vor zwei Jahren fingen sie auf einmal mit bearbeiteten Aufführungen für Kinder an.

Ja, spinn ich denn? Was kommt wohl als Nächstes: Hüpfburgen in einem kunterbunten „Nibelungenland“, Antifa-Arbeitsgruppen, oder werden bald alle Stücke in Gefängnisse, Asylantenwohnheime und Arbeitsämter hinein getwittert, umsonst und für alle, oder wie? Frau Wagner??!! Das ist nicht mehr mein Bayreuth! Ich such mir ab jetzt eine neue Pilgerstätte: Lorelei, Wunsiedel, Stonehenge, Stalingrad – egal, bloß weg hier.