Sind Rating- Agenturen überbewertet?
JA

VORHERSAGEN Wenn Moody’s, Standard & Poor’s oder Fitch ihr Wort erheben, werden Regierungen nervös. Viel Macht für drei private Unternehmen

Die sonntazfrage wird vorab online gestellt.Immer am Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz. www.taz.de/sonntazstreit

Wolfgang Schäuble (CDU), 68, ist seit dem Jahr 2009 Bundesminister für Finanzen

Die Finanzmarktkrise und die aktuelle Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass blindes Vertrauen der Marktteilnehmer auf die Bewertungen der Ratingagenturen nicht gerechtfertigt ist. Investoren müssen stärker zu einer eigenen Risikoeinschätzung angehalten werden, denn auch die Ratings der Agenturen sind schlussendlich subjektive Einschätzungen, die immer auf bestimmten Annahmen für die Zukunft beruhen und zudem nicht immer frei von Interessenkonflikten sind. Daher unterstützt die Bundesregierung gezielt Initiativen des Financial Stability Board und der Europäischen Kommission, die Bedeutung externer Ratings in den aufsichtsrechtlichen Vorgaben – etwa den Eigenkapitalvorschriften für Banken – zu verringern. Wichtig ist außerdem auch mehr Transparenz. Es muss für Nutzer der Ratings einfach und transparent nachvollziehbar sein, auf welchen Prämissen die Ratings beruhen. Investoren sollen in ihren unabhängigen Risikoeinschätzungen gestärkt werden und sich nicht nur mechanisch auf Ratings verlassen dürfen. Zusätzlich wünschen wir uns mehr Wettbewerb in der Ratingbranche. Ein Schritt in diese Richtung wäre eine privatwirtschaftlich organisierte europäische Ratingagentur, die als „Vollanbieter“ alle wichtigen Ratingklassen abdeckt. Nur eine vom Staat unabhängige Ratingagentur hätte die Aussicht, vom Markt akzeptiert zu werden.

Dirk Müller, 42, ist Börsenmakler und Bankkaufmann. Er gilt als das Gesicht der Frankfurter Börse

Ratingagenturen sind bislang private amerikanische Firmen mit klaren finanziellen Interessen und bei näherem Hinsehen starken politischen Verbindungen. Sie sagten selbst in einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss der USA von sich, ihre Bewertungen seien reine Meinungsäußerungen und böten keine Grundlage für Anlageentscheidungen. Warum bewerten Banken und Zentralbanken die Risiken ihrer Anlagen nicht selbst? Das ist ihre ureigene Aufgabe. Dafür haben sie doch die Expertenstäbe. Die Fehleinschätzungen der großen Ratingagenturen sind legendär. Pleitekandidaten wie Lehman, Enron oder Island hatten kurz vor dem Zusammenbruch noch beste Ratings. Mit welch zweierlei Maß die Agenturen messen, erkennt man spätestens beim Blick auf die Bestnote für die USA, die unmittelbar vor einem möglichen Zahlungsausfall stehen. Gleichzeitig wird ein europäischer Staat nach dem anderen herabgestuft. Ganz klar: Nicht die Herabstufung der Europäer ist zu verurteilen, sondern die Blindheit, wenn es um Länder wie USA oder Großbritannien geht. Eine neutrale Ratingerstellung jedenfalls sieht anders aus.

Tobias Fertsch, 35, aus Nürnberg hat die Frage auf der Facebookseite der sonntaz kommentiert

Die Ratingagenturen waren wichtig zu der Zeit, als sie gegründet wurden, wie Moody’s 1909. Damals war der Informationsfluss noch träge. Telefone waren ein Novum, und der Großteil der Kommunikation lief über den Postweg oder Telegrafen. Heutzutage aber, im Informationszeitalter, wo Informationen in Echtzeit vermittelt werden und für jeden nur einen Mausklick entfernt sind, erwarte ich von einer Regierung, einem multinationalen Konzern oder einem Investmentbanker, ihre Expertisen anhand von selbst aggregierten Informationen abzugeben und nicht anhand von Ratingagenturen, die in privatwirtschaftlichen Händen sind.

NEIN

Markus Krall, 48, ist Senior Partner bei der Unternehmens- und Strategieberatung Roland Berger

Ratingagenturen stellen die Transparenz und Informationsgleichheit zwischen Schuldnern und Gläubigern her. Dieses System ist unverzichtbar. Diese Aufgabe auf die Marktteilnehmer zurückzuübertragen, ist im günstigsten Fall teuer und zeitaufwändig; im ungünstigsten Fall scheitert es am Einfluss der Ratings auf die Entscheidungsprozesse der Unternehmen. Denn ihre Anlagesteuerungsprozesse sind bis in die IT-Systeme auf die Ratings ausgerichtet. Umso wichtiger ist es, den Markt für Ratings auf gesunde Beine zu stellen, also Wettbewerb und Transparenz zu schaffen und die Interessenkonflikte der Agenturen abzuschaffen. Nur so lassen sich die massiven Risiken beherrschen, die von der monopolistischen und konfliktbeladenen Ratingindustrie ausgehen. Die Lösung heißt unserer Meinung nach europäische Ratingagentur und investorenbasiertes Bezahlsystem für Ratings.

Derek Scally, 34, arbeitet seit elf Jahren als Berlin-Korrespondent für die Tageszeitung Irish Times

Ratingagenturen zu verteufeln ist so irrsinnig, als würde man Jörg Kachelmann erneut vor Gericht stellen, aber diesmal wegen fahrlässiger Wettervorhersage. Wie Meteorologen sammeln Ratingagenturen Informationen, um eine Vorhersage zu erstellen. Politiker hassen Ratingagenturen, weil diese ihr Wunschdenken während der Finanzkrise andauernd und zu Recht unterlaufen haben. Wenn Politiker Ratingagenturen angreifen – wohlgemerkt nur bei ungünstigen Ratings –, verstärken sie deren Einfluss bloß noch weiter. Die traurige Wahrheit ist, dass sowohl Ratingagenturen als auch Politiker Schlüsselrollen in der Eurokrise gespielt haben: die Agenturen mit AAA-Ratings für faule Kredite und die Politker mit ihrer Schuldensucht. Beide Seiten sitzen im Glashaus und sollten nicht mit Steinen werfen. Viele Iren verfluchen die Agenturen nicht, sondern sind für den neuen „Ramschstatus“ dankbar. Unsere Wirtschaft funktioniert, aber unsere Schuldenlast ist untragbar. Die Herabstufung hat geholfen, unseren Nachbarn klar zu machen, dass wir die Darlehen von EU und Internationalem Währungsfonds nicht zu den ursprünglich vereinbarten Konditionen zurückzahlen können. Danke, Moody’s!

Mechthild Schrooten, 50, ist Professorin für Volkswirtschaftslehre in Bremen

Die Bedeutung der Ratingagenturen mag gemessen an ihrem Wissensvorsprung überschätzt sein. Doch ihren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung darf man dennoch nicht unterschätzen. Wie geht das zusammen? Ganz einfach: Wir leben in einer Informationsgesellschaft, in der finanzmarktrelevante Daten weitgehend frei zugänglich sind. Die Auswertung der Daten setzt Sachkompetenz voraus; diese trauen sich nicht viele zu und delegieren die Risikoeinschätzung. Vielen Nachfragern steht eine übersichtliche Anzahl von Anbietern gegenüber. Da ist Marktmacht vorprogrammiert; jedes ökonomische Lehrbuch fordert in einer solchen Situation staatliche Intervention. Die Bundesbank könnte eine Vorreiterrolle als erste öffentlich-rechtliche Ratingagentur einnehmen. Die Sachkompetenz ist da – allein der Mut scheint zu fehlen. In der Zwischenzeit ergreifen Nichtregierungsorganisationen ihre Chance. In Brüssel wurde Finance Watch gegründet. In ein paar Jahren werden weder private noch staatliche Stellen an den Einschätzungen solcher NGOs vorbeikommen.