Die Selbstabschafferin

Eine, der auf Erden nicht zu helfen war – und die darüber außergewöhnliche Texte schrieb: Alejandra Pizarnik, argentinische Dichterin, deren Tagebücher nun erstmals auf Deutsch vorliegen

VON MANUEL KARASEK

Hierzulande kennt kaum jemand die 1936 in Argentinien geborene Lyrikerin und Schriftstellerin Alejandra Pizarnik – trotz der 2002 im Ammann-Verlag veröffentlichten Gedichte „Cenizas. Asche, Asche“. In der spanischsprachigen Welt ist die Autorin, die ihrem Leben 1972 mit einer Überdosis Schlaftabletten ein Ende setzte, allerdings eine feste Größe. Die Feministinnen haben ihr Werk ihn Anspruch genommen, literarische Berühmtheiten – wie beispielsweise ihr argentinischer Kollege Julio Cortázar – sie posthum mit einem Gedicht bedacht; und literaturwissenschaftliche Seminare zum Werk der Frühverstorbenen sind zwischen Buenos Aires, Mexico City und Madrid keine Seltenheit. In den frühen 60ern hatte Pizarnik in Paris gelebt, dort unter anderem den späteren Literaturnobelpreisträger Octavio Paz getroffen, für mehrere Zeitungen und Zeitschriften geschrieben und einige Bände mit Lyrik und Erzählungen publiziert.

Von ihren Lebensstationen erfährt man in dem nun zum ersten Mal auf Deutsch erschienenen Tagebuch „In einem Anfang war die Liebe Gewalt“ überraschenderweise nicht sonderlich viel. Fast alle notierten Erlebnisse wirken eher wie Umrisse, Skizzen. Beinahe alle Personen hat sie mit Kürzeln versehen – und ohnehin interessiert sie sich nicht so sehr für die Außenwelt. Ihr knapp 500 Seiten langes Tagebuch entpuppt sich rasch als eine jener gigantischen Dichter-Introspektiven, in denen der Verfasser das ganze Repertoire aus Angst, Demut und Lebensverweigerung noch mal düster auskostet. Wie man es aus Kafkas Tagebuch oder Pessoas „Buch der Unruhe“ kennt.

Die Welt wird noch mal eingezirkelt von ungeheuren Lebensängsten. Schreibskrupel wechseln mit Phasen von Arbeitswut. Pizarnik entwickelt ihr Tagebuchschreiben zu einer Methode der Selbstbeobachtung. Besessen notiert sie ihre systematische Selbstdestruktion, ihren Dauerflirt mit dem Tod. So kommt das alles ziemlich existenziell daher; und trotzdem beginnt man die Lektüre dieses bemerkenswerten Tagebuchs mit einiger Skepsis, weil ihre Notizen 1954 ansetzen – da war die Autorin gerade mal 16 Jahre alt. Man fürchtet, den Neurosen eines literarischen Backfischs folgen zu müssen.

Manche Zeilen klingen zunächst auch eher unbeholfen. Es gibt thematische Wiederholungen, einige Passagen sind mehr oder weniger gehobener Schwulst, und gelegentlich enerviert ihr finsterer Schleiertanz um Angst und Tod mit seinen unvermeidlich pathetischen Elementen. Aber größtenteils ist das ein faszinierendes Buch. Zunehmend fesselt einen dieses Kreiseln im wahnsinnig einsamen Dichterkopf. Und man weiß zunächst nicht so recht, was die Neigung zu dieser Außenseiterin und ihrer Programmatik auslöst.

Einerseits erstaunt die Konsequenz, mit der Alejandra Pizarnik all ihre inneren Leidenslandschaften zeichnet. Andererseits bewundert man die Leichtigkeit, mit der sie über diesen Modus sich selbst und ihr Umfeld knapp porträtiert. Eine lateinamerikanische Kettenraucherin mit einem Hang zur Verzweiflung, von heftigen Abenteuern und Eskapaden geschüttelt, eine schöne Alkohol- und Medikamentenabhängige, die in Pariser Cafés hockt, wirkt natürlich wie ein Abziehbild des Existenzialismus der frühen 60er-Jahre. Aber das Mysteriöse ist, dass das Klischee gar nicht erst von einem Besitz ergreift. Noch seltsamer ist, dass sie, obwohl sie dauernd beteuert, nicht gut schreiben zu können, etwas schwer Fassbares auf Begriffe zu bringen versucht – und gerade das fesselt.

Es sind dabei nur bedingt die vielgestaltigen Antagonismen ihrer selbst und ihrer Zeit, die sie in Sprache zu transformieren trachtet. Denn den Graben, der sich zwischen ihr und den anderen auftut, erkennt sie schnell als unüberbrückbares Hindernis. So sucht sie eher nach einem Paradoxon. Pizarniks Tagebuch entwickelt sich zu einem hybriden Versuch einer Schriftstellerin, eine Sprache zu erschaffen, die ihre eigene ist – ihre Erfindung. Und mehrmals betont sie deshalb, dass es ihr nicht darum gehe, die Wörter und Sätze zu benutzen, die alle anwenden.

Obwohl sich auf den ersten Blick die Programmatik nicht von denen anderer Dichter unterscheidet, entwickelt sich daraus eine komplizierte Dialektik – ein stets bedrohliches Pendeln zwischen der Angst vor dem Versiegen der schöpferischen Kräfte und ihrem eruptiven Hervorbrechen. Pizarnik fordert das Hypertrophe heraus, hinter das einzelne Wort zu schauen, in den Kern einzudringen. Das hat dann eine schwer zu vermittelnde Konsequenz zur Folge: Je höher sie ihren dichterischen Diskurs schraubt, desto stärker treibt dieser sie in die Tiefe ihres Unglücks.

Das Interessante daran ist nicht allein am individuellen Schicksal von Alejandra Pizarnik – und an ihrer Krankenakte – auszumachen. Als Kind jüdischer Emigranten spürt sie nämlich – ähnlich wie Kafka – stets die Drohung eines endgültigen Ausschlusses aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Exklusion tritt ihr aber nicht als Antisemitismus entgegen, sondern eher wegen ihrer krankheitsbedingten Verfassung. Die Ärzte erfährt sie verstärkt als Institution, die ihren manisch-depressiven Zustand für rein pathologisch erklärt. Gerade aber ihr bedenklicher Zustand ist aus Pizarniks Sicht unverzichtbarer Teil ihres dichterischen Vermögens. Ein unaufhebbarer Widerspruch, den der Leser durch den glänzenden Stil schließlich nachvollziehen kann.

Warum derart viel Düsterkeit einem nicht das Gemüt verfinstert, liegt eben daran, dass Pizarnik mit ihrer Selbstbeschreibung einen Prototyp des Menschen im 20. Jahrhundert festhält – was ihr auch bewusst war, weshalb sie noch zu Lebzeiten Teile ihres Tagebuchs publizierte. In den beschriebenen Zuständen erkannte sie den exemplarischen Gehalt einer aufs Extreme reduzierten Bedingung des Menschseins. Die Unsicherheit gegenüber der Unüberblickbarkeit moderner Gesellschaften, die Furcht vor der unkontrollierbaren Eigendynamik des Unterbewusstseins. Die Radikalität ihres Schreibens legt frei, was in vielen Menschen schlummern, vielleicht auch lauert.

Es gibt noch andere Gründe für die Außergewöhnlichkeit ihrer Texte. Zum einen fesselt die Kombination aus Jugend und Überspanntheit. Eine bestimmte Art der Texthysterie, die sich bei jungen und besonders empfindsamen Autoren (Hölderlin, Trakl etc.) gerne manifestiert, findet man bei Pizarnik ebenfalls. Zum anderen bewundert man zuweilen eine bestechend scharfe Urteilskraft. So glaubt sie in Flauberts berühmtem Satz „Madame Bovary c’est moi!“ auch den deutlichen Hinweis zu sehen, dass der große Autor offenbar gerne Kleider getragen hätte. Sie sagt das ohne jeden Spott – und bei Lichte besehen, ist Pizarniks Bemerkung äußerst geistreich: Warum sagt ein Mann, dass er gerne eine Frau wäre?

An anderer Stelle erklärt sie, Jesus sei ein armer, hässlicher Jude gewesen, der die Liebe und das Mitgefühl gepredigt habe, ohne beides auch nur einmal in der Wirklichkeit ausgetestet zu haben. Jesus habe eher die Idee von Liebe und Mitgefühl verfolgt. Solche Bemerkungen verweisen allerdings über ihren rein aphoristischen Gehalt auf Pizarniks Konzeption: Fragen nach literarischen Formaten und die Stellung des Künstlers betrachtet sie stets aus der Perspektive des Außenseiters. Deutlich wird dies auch an anderer Stelle, wenn sie notiert: „Ich denke, meine Methode des Korrigierens ähnelt gar zu sehr der Strafe.“

Auch das erweist sich als erhellend, weil sie sich gegen die übergroße Strenge des Stils eines Gustave Flaubert oder Jorge Luis Borges wendet, diese aber gleichzeitig bewahrt wissen möchte. Das skrupulöse Arbeiten am Text offenbare Elemente der Selbstbestrafung, die aus Schuldgefühlen heraus entstünden, schreibt sie. Das Privileg künstlerischer Produktion berge deshalb automatisch Masochismus in sich. Gerade einer Autorin jüdischer Herkunft musste diese Verklammerung besonders evident erscheinen. Mit Blick auf einen anderen großen Perfektionisten der Weltliteratur – Franz Kafka – notiert Pizarnik, der Jude hadere mit der Strafe, der zu sein, der er ist. „Einerseits ein besonderer Sinn für die Dinge“, erklärt sie. „Andererseits ein Ghettogeist.“

1966 kehrte Alejandra Pizarnik nach Argentinien zurück. „Nichts ist gräulicher als ein literarisches Leben“, schreibt sie; und spricht vom Scheitern ihres gesamten Lebens, das umso schwerer wiege, als sie glaube, die Mutter habe sich große Hoffnungen auf den literarischen Erfolg ihrer Tochter gemacht. Eine Art von Verrat scheint dem vermeintlichen Versagen innezuwohnen. Aber es ist alles zu spät. Denn, so Pizarnik weiter, ihre Mutter und sie seien so besiegt, dass Schuldige und Opfer nicht mehr auszumachen seien.

Das furchtbar Schöne an dieser Bemerkung ist erneut in Pizarniks Verständnis von Destruktion zu suchen. In den Wechselbeziehungen zwischen Werk und Verfasser – und in denen zwischen Personen – sieht sie Zerstörung nicht allein als Mechanismus endgültiger Vernichtung, sondern eher als Grundbedingung des schöpferischen Prozesses. Denn erst durch Destruktion kann man aus ihrer Sicht dichterische Sprache und neue Formkonzepte freilegen. Allein schon in der Tagebuchform sieht sie dies verwirklicht.

Alejandra Pizarnik: „In einem Anfang war die Liebe Gewalt“. Aus dem Spanischen von Klaus Laabs. Ammann, Zürich 2007, 500 Seiten, 39,90 Euro