Heimkehrer proben den Aufbruch

Das Leben in Ruf- und Sichtweite: Nach der Großstadt wendet sich Karin Kersten entschieden der Provinz zu. Ihr Roman „Hohe Tannen“ spielt im tiefsten Harz – kleine Rebellionen und große Sehnsucht auf dem Dorf

VON IRENE GRÜTER

Provinz in der deutschen Gegenwartsliteratur? Das bedeutet meist nichts Gutes. Entweder erscheint sie als ländliches Idyll oder als biederbürgerliches, ewig gleiches Verhocktsein. Nichts davon bei Karin Kersten. In „Hohe Tannen. Ein Roman für Freunde“ wimmelt es von gerafften Gardinen und handtuchschmalen Vorgärten, doch was sich davor und dahinter abspielt, erzählt sie so flott und launig, dass man gerne bereit ist, sich für einen gealterten Freundeskreis im Mittelgebirge zu interessieren.

Die hohen Tannen, die dem Nest seinen Namen gaben, stehen in einer scharfen Straßenbiegung am Ortseingang. Sie haben den jungen Robert Backla das Leben gekostet, als er vor vielen Jahren, spät nachts und nicht mehr ganz nüchtern, nach Hause zurückkehren wollte. Dreißig Jahre später halten seine damaligen Freunde manchmal an der Unfallstelle, führen Zwiegespräche mit dem Verstorbenen und denken darüber nach, was aus ihnen geworden ist. Die meisten verließen den Heimatort, doch einer nach dem anderen kehrt wieder zurück. Zuletzt trifft Zicki Backla, die Fabrikantentochter, aus Italien ein. Nach dem Tod beider Eltern verlässt sie ihr Sehnsuchtsland, ihre Sommerkunstschule und wechselnden Verlobten, um dauerhaft in die Sägewerksvilla zurückzukehren. Kaum eingerichtet zwischen Bügelzimmer und dunklen Büfetts beschließt sie, den Betrieb des Vaters abzuwickeln, weil darin einmal Zwangsarbeiter beschäftigt waren. „Zicki übernimmt gleich mal alle Arbeiter“, posaunt eine Kapitelüberschrift. Ohne weitere Pläne, versteht sich.

„Wenn Menschen in diesem Alter sind, wo es auf der Kippe steht, ob sie noch einmal wild werden oder sich bescheiden, kann man wohl kaum Ruhe erwarten“, denkt die Haushälterin Hedel, blütenweiß geschürzt, mit einem Anflug von Bart und gesundem Pragmatismus. Den braucht es auch, denn natürlich wollen sich die neun Freunde, angeführt von Zicki, nicht so schnell bescheiden. Was tun mit dem Areal der stillgelegten Sägerei? Etwas Sinnstiftendes sollte es schon sein, befindet Zicki und befiehlt flugs die alten Freunde zum Brainstorming. Die zündende Idee stellt sich nicht ein, und am Ende kommt das Unvermeidliche heraus: ein Verein.

Mit welchem Ziel die neugeborene Gemeinschaft antreten soll, ist den gealterten Schulhelden allerdings selbst nicht ganz klar. Hochkomisch beschreibt Karin Kersten, wie die Heimkehrer den Aufbruch proben, dabei aber in die klassische Provinzmuster verfallen. Nach unzähligen flapsigen Stammtischgesprächen schaffen sie grüne Baracken herbei, eine Hinterlassenschaft des Schützenvereins, und bestücken sie mit alten Schulbänken. Hier soll der festliche Gründungsakt, das „Finkenmanöver“, über die Bühne gehen. Der Begriff bezeichnet, so eine Harzer Tourismusseite, einen „Sangeswettbewerb zwischen Buchfinken, die in verdunkelten Käfigen gegeneinander ansingen“.

Wie die Finken im verhängten Käfig wetteifern die neun Freunde darum, ein wenig Leben in die finstere Waldesruh zu bringen. Eigentlich nicht viel Stoff für einen Roman von 360 Seiten, doch Karin Kersten verwandelt das Minimum an Handlung in größtmögliche Betriebsamkeit. Wie in ihrem späten und hoch gelobten Debüt „Die Aufgeregten. Ein Großstadtroman“ erzählt die Autorin, 1943 in Braunschweig geboren, in ironischer Rücklage, stellt mit ihrer unkonventionellen Erzählweise eine intime Atmosphäre her, die das Kleinteilige des „Lebens auf Ruf- und Sichtweite“ auf den Punkt trifft. Jedes Landei wird sich wieder erkennen in dieser Mischung von Stammtischphilosophie, Lokalkolorit und mundgeraubten Dialogen. Man kennt sich seit Urzeiten, lästert über die ewig gleichen Sprüche des Landarztes, toleriert die filzigen Geschäfte des Autohändlers, der auch den Schrottplatz besitzt, und blickt mit Ehrfurcht zum dichtenden Lokalhistoriker auf. Eine Gemeinschaft, in der man nicht um Thermoskannen, Chorgesang und Ostereier-Ornamentik herumkommt.

Karin Kersten vollbringt dabei das Kunststück, mit den Elementen eines Heimatromans zu spielen und zugleich über moderne Menschen zu erzählen. Und die tun sich schwer mit ihrem Verhältnis zur Heimat, dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, der Rebellion gegen das dörfliche Verhaftetsein. „Nach vorne raus Sehnsucht, nach hinten raus Wehmut, doch was spielt sich eigentlich dazwischen ab?“, fragt Wenner vor der gemischten Aufschnittplatte. „Ein erfülltes Leben“, antwortet Ott, der ehemalige Reiseschriftsteller, und faltet fromm die Hände. In gewisser Weise sind alle Opfer der hohen Tannen, die Heimkehrer wie die Daheimgebliebenen.

Doch anders als der junge Robert Backla kriegen sie am Ende die Kurve. Das Finkenmanöver wird ein rauschendes Fest, danach brennen die Baracken ab, und bald liegen auch die hohen Tannen gefällt am Ortseingang. Es dringt wieder ein wenig Licht in den dunklen deutschen Wald.

Karin Kersten: „Hohe Tannen. Roman für Freunde“. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2007, 364 Seiten, 22,50 Euro