Die Grenzen wegschneiden

STRICHE Nanne Meyer zeichnet und lehrt an der Kunsthochschule Weißensee. Jetzt hat sie den Hanna-Höch-Preis erhalten und stellt im Kupferstichkabinett aus

Alte Landkarten und Atlasseiten nimmt sie als Untergrund für Zeichnungen

VON INGA BARTHELS

Farbstift auf Schultafellack, Gouache auf Landkarte, Tinte auf den Seiten eines Kinderbuches. Wer bei Zeichnungen nur an Papier und Bleistift denkt, den belehrt Nanne Meyer eines Besseren. Die Berliner Zeichenkünstlerin dehnt ihr Genre bis an seine Grenzen aus, geht manchmal auch darüber hinaus. Dann malt sie, schneidet aus, collagiert. Dabei zeigt sie nicht nur, was das Medium Zeichnung alles kann, sondern auch stets ihre ganz eigene Sicht der Dinge.

Ein wiederkehrendes Motiv sind dabei Landschaften, aus der Vogelperspektive betrachtet. Dazu gehört die großformatige Arbeit „Nachtflug“, in der Meyer mit silbrig schimmerndem Gelstift Berge und Häuser auf schwarz grundiertes Papier bringt. Der Blick aus einem Flugzeugfenster hinunter in die Nacht, auf die vorbeifliegenden Landschaften. Meyer fängt diese Impressionen aus der Luft ein, die ebenso schön wie flüchtig sind. „Nichts als der Moment“ ist so auch Titel der Ausstellung im Kupferstichkabinett, die eine Auswahl an Meyers Arbeiten der letzten zwanzig Jahre zeigt. Anlass der Werkschau ist die Verleihung des mit 25.000 Euro dotierten Hanna-Höch-Preises des Landes Berlin an die Professorin der Kunsthochschule Weißensee.

Nanne Meyers kartografische Arbeiten der letzten fünfzehn Jahre bilden das Herzstück der Ausstellung. Alte Landkarten und Atlasseiten nimmt sie als Untergrund für Zeichnungen, die den Untergrund verfremden, auslöschen oder davon abstrahieren. In ihren „Kartenschnitten“ schneidet die Künstlerin Landkarten so aus, dass nur noch die Grenzen zwischen den Ländern übrig sind. In einer Ecke der Ausstellung verlassen die Grenzen ihren Rahmen gänzlich und verbreiten sich über die Wand. Ihrem Kontext entrissen erinnern die willkürlichen Linien eher an Pflanzen oder Risse denn an Grenzen, die ein Land vom anderen trennen. „Grenzenlosigkeit“ heißt diese Arbeit, die sich – gerade angesichts der aktuellen Diskussion über globale Migration – durchaus auch politisch interpretieren lässt.

Neben den kartografischen Arbeiten beschäftigt sich Nanne Meyer mit dem Zusammenspiel von Wort und Bild. In „Ten Words“ übermalt sie siebzig Seiten des alten Kindersachbuches „The Great Ball on Which We Live“ mit weißer Farbe und lässt nur zehn Begriffe stehen, darunter „earth“, „air“ und „time“. Die Wörter markiert sie mit einem roten Punkt und verbindet sie mit schwarzen Linien, sodass sich verschiedene Muster auf den Seiten ergeben. Dabei entstehen Gebilde, die an Sternbilder erinnern und deren textlicher Inhalt zum Philosophieren über die grundlegenden Elemente des Lebens anregt.

Die Serie „Einst & Jetzt“ lädt die Betrachter derweil ein zum munteren Ratespiel. Meyer bemalt und bezeichnet Papier und beklebt es dann mit Motiven aus vergangenen Zeiten, die sie aus Ansichtskarten ausschneidet. Schöne alte Autos vor einer Fabrik, eine Gondel, ein Doppeldeckerbus. Herauszufinden, wann und wo die Fotos geschossen wurden, mit dieser Detektivarbeit könnte man Stunden vor den Arbeiten verbringen.

Politik, Philosophie, Spaß. Nanne Meyer vereint in ihrem Werk eine Vielfalt an Thematiken und Techniken und ruft damit die unterschiedlichsten Reaktionen hervor. Meyers Graphitgebirge erinnern mit ihrem Spiel von Licht, Nebel und Wolken an die Gemälde von William Turner, die Serie „Blei“ zeigt Frauenköpfe, die schemenhaft aus dem Dunklen kommen und deren Blick beunruhigt. Einen Raum weiter verbreiten poppig-bunte Gouache-Punkte auf einer alten Landkarte gute Laune. „Nichts als der Moment“ zeigt eindrucksvoll, wie reich das Genre Zeichnung sein kann – jenseits von Bleistift und Papier.

■ Nanne Meyer: „Nichts als der Moment. Zeichnungen“. Im Kupferstichkabinett, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. + So. 11–18 Uhr, bis 15. 2. 2015