Nix gelernt. Oder?

Zehn Jahre nach der großen Oderflut von 1997 stellt sich die Frage: Welche Konsequenzen hat Brandenburg aus der Jahrhundertkatastrophe gezogen?

Das Jahrhunderthochwasser an der Oder hielt die Menschen in Deutschland, Polen und Tschechien 1997 wochenlang in Atem. Eine Chronologie der Katastrophe:

6. Juli 1997: Nach außergewöhnlich starken Regenfällen an Oder, Glatzer Neiße und Weichsel treten im Westen Tschechiens und in Südpolen Bäche und Flüsse über die Ufer und überfluten weite Landstriche. Während des wochenlangen Hochwassers kommen in Polen 55 und in Tschechien 49 Menschen ums Leben.

10. Juli: Angesichts steigender Pegelstände werden an der Oder erste Schutzmaßnahmen ergriffen.

13. Juli: Die Flut erreicht Breslau. Um die Stadt zu retten, hatten polnische Sicherheitskräfte zuvor versucht, einige Deiche oderaufwärts zu sprengen. Sie wurden jedoch von Bauern daran gehindert. In Breslau selbst kämpfen tausende Bewohner mit Sandsäcken um ihre Altstadt.

17. Juli: Die Hochwasserwelle erreicht die Neißemündung in Ratzdorf und damit Brandenburg. Stündlich steigen an der Oder die Wasserpegel. Südlich von Eisenhüttenstadt beginnen Helfer, Deiche mit Sandsäcken zu verstärken.

21. Juli: An der Oder beginnt der größte Hilfseinsatz der Bundeswehr seit der Hamburger Sturmflut 1962 – insgesamt 30.000 Soldaten werden eingesetzt und 8,5 Millionen Sandsäcke verbaut.

22. Juli: Am Abend wird als erste Gemeinde Aurith in der Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) evakuiert. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) besucht Frankfurt und sagt Hilfe zu.

23. Juli: In Brieskow-Finkenheerd südlich von Frankfurt bricht der erste Deich. Pro Sekunde strömen rund 500 Kubikmeter Wasser in die Ziltendorfer Niederung. 2.000 Menschen müssen ihre Häuser verlassen.

25. Juli: Nach einem erneuten Bruch des Deiches bei Aurith werden Häuser binnen weniger Stunden bis zum Dach überflutet. Am Oderbruch droht bei Hohenwutzen ein Deich zu brechen. Menschen aus mehr als 20 Orten haben ihre Häuser verlassen – das sind rund 9.500 Betroffene.

27. Juli: Nach einer kurzen Entspannung steigt der Wasserpegel in Frankfurt auf eine neue Höchstmarke. Nach einem neuen Deichschaden am Oderbruch bereiten sich weitere 9.000 Menschen auf das Verlassen ihrer Wohnungen vor. Das polnische Słubice ist bereits evakuiert.

30. Juli: Die Lage am Oderbruch wird immer dramatischer. Nach einem erneuten Deichrutsch droht der nördliche Abschnitt des Gebiets überflutet zu werden. Rund 15.000 Menschen werden aufgefordert, vorsorglich ihre Häuser zu verlassen.

1. August: Die Behörden beschließen, einen neuen, rund 3,2 Kilometer langen Damm im Süden des Oderbruchs zu bauen, um das Gebiet von Süden her gegen eine Überflutung zu schützen.

3. August: Erstmals gibt es im Kampf gegen das Hochwasser einen Hoffnungsschimmer: Zwar besteht nach wie vor die Gefahr eines Deichbruchs nördlich von Frankfurt, doch wurden keine neuen Risse im Wall am Oderbruch entdeckt. Entwarnung gibt es jedoch noch nicht.

5. August: Die Lage entspannt sich weiter. Die Bundeswehr hat noch rund 2.000 Soldaten ständig an den Deichen. Der Bund beschließt ein Hilfsprogramm in Höhe von rund 500 Millionen Mark.

6. August: Drei Wochen nach Beginn des Jahrhunderthochwassers kehren die ersten Einwohner in ihre evakuierten Dörfer zurück.

9. August: Im Hochwassergebiet an der Oder ist die Gefahr endlich gebannt. Rund 5.200 Menschen aus 17 Dörfern können in ihre Häuser zurückkehren. DPA, TAZ

VON UWE RADA

In Brandenburg ist gerade wieder viel von Wundern die Rede. Zum Beispiel vom „Wunder von Hohenwutzen“. In der kleinen Grenzgemeinde bei Bad Freienwalde erlebte der Deich an der Oder am 25. Juli des Jahres 1997 den ersten Böschungsbruch. Fünf Tage später schien die Katastrophe unvermeidlich. Die Wassermassen der Oderflut ließen den Deich auf 150 Metern Länge in die Tiefe rutschen. Das „Wunder von Hohenwutzen“ bestand darin, dass einige beherzte Helfer und Bundeswehrsoldaten so viele Sandsäcke auf den Deich stapelten, dass er am Ende doch noch hielt.

Heute erinnert in Hohenwutzen ein Findling an die Jahrhundertflut, die am 17. Juli 1997 über Brandenburg hereinbrach. Die Inschrift des Flutsteins ist gleichwohl symptomatisch für den Umgang des Menschen mit der Naturgewalt. „Am 25. und 30. Juli 1997 wurden am Kilometer 70,5 und 70,4 durch gemeinsame Anstrengungen, Ideenreichtum und moderne Technik mögliche Deichbrüche verhindert“, ist in den Stein graviert. Zehn Jahre später scheint der Dreisatz in Brandenburg zu lauten: „Hochwasser, Deich, Wunder.“ 131 von insgesamt 160 Deichkilometern sind inzwischen saniert oder neu gebaut.

Dass es auch ohne Deich und Wunder gehen kann, musste Brandenburg später von den Sachsen lernen. Dort war der „Jahrhundertflut“ an der Oder fünf Jahre später ein „Jahrhunderthochwasser“ gefolgt. An der Elbe nahmen sich die Fluten am 16. August 2002 den nördlich von Riesa gelegenen Stadtteil Röderau-Süd.

Für die Landesregierung in Dresden war das allerdings nicht nur eine Katastrophe, sondern auch die Chance für eine Umkehr. Statt der Gelder für den Wiederaufbau von Häusern und Deichen kamen die Bagger – und räumten weg, was die Elbe nicht geschafft hatte. 42 Millionen Euro ließ man es sich in Dresden kosten, die Flutopfer zu entschädigen und ihnen bei der Umsiedlung behilflich zu sein. Erstmals seit der Oderflut 1997 war damit Ernst gemacht worden mit der Forderung: Gebt den Flüssen ihren Raum. Der Naturgewalt eines Flusses war nicht mit mehr Gewalt, sondern mit mehr Natur begegnet worden.

Einer, von dem man solches nicht vermutet hätte, hatte Ähnliches in Brandenburg gefordert. Ein Jahr nach der Oderflut traf der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl an einem Ort ein, der 1997 vergeblich auf ein Wunder gehofft hatte – in der Ernst-Thälmann-Siedlung in der Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder). Vier Tage nachdem die Scheitelwelle der Flut die Neißemündung bei Ratzdorf und damit Brandenburg erreicht hatte, war der Deich in Brieskow-Finkenheerd gebrochen. Binnen kürzester Zeit war die Ziltendorfer Niederung vollgelaufen, die Ernst-Thälmann-Siedlung und das am Oderufer gelegene Aurith standen unter Wasser.

Ein Stein von Helmut Kohl

Einen Gedenkstein sollte Helmut Kohl an diesem 25. Juli 1998 einweihen, einen gespaltenen Findling, der den Bruch demonstrierte, den die Flut im Leben der Menschen hier bedeutete. Doch dann sprach der Kanzler etwas aus, was den Festgästen den Atem stocken ließ. „Die Erfahrungen, die wir hier gemacht haben“, sagte Helmut Kohl, „zeigen, dass wir den Flüssen ihren Lebensraum lassen müssen, sonst holen sie sich ihn wieder zurück.“ Gewässerausbau, sagte der Kanzler ganz zur Freude des damaligen Brandenburgischen Umweltministers und heutigen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD), „darf nicht zu einer Zerstörung der natürlichen Rückhalteflächen führen, wie sie die Auenlandschaften auch hier an der Oder bieten“.

„Damals“, erinnert sich Matthias Freude, Präsident des Brandenburger Landesumweltamts und langjähriger Weggefährte Platzecks, „war die Sache leider schon anders entschieden.“ Nicht Abbaggern lautete die Devise in der Ziltendorfer Niederung, sondern Wiederaufbau. Es war der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD), der so entschieden hatte. Vor allem die Bewohner des Oderbruchs hatten gegen die Aufgabe von Siedlungen mobilgemacht, weil sie um ihre eigenen Dörfer fürchteten. Offiziell hieß es aber, man könne den Bewohnern Auriths und der Ernst-Thälmann-Siedlung nicht ein zweites Mal die Heimat nehmen. Viele von ihnen waren nach 1945 aus Schlesien in die Niederung gekommen, hatten aus Ruinen Häuser gebaut und waren geblieben.

Heute ist nicht nur der Deich in Aurith höher denn je. Auch die Häuser sehen schmucker aus als vor der Oderflut. Selbst der heilsame Schock, den eine Entdeckung während des Hochwassers ausgelöst hatte, ist wieder vergessen. Damals hatten die Aurither bemerkt, dass sich dort, wo in Ziltendorf die Niederung endet und die Hügel des Schlaubetals beginnen, eine „Uferstraße“ durchs Dorf schlängelt. Bis hierhin reichte also das angestammte Gebiet der Oder, die Niederung war immer Schwemmland gewesen.

Hat man aus der Katastrophe also nichts gelernt außer technischem Hochwasserschutz, soll heißen: Deichbau? Muss man, wenn die nächste Hochwasserwelle anrollt, schon wieder auf Wunder hoffen?

Matthias Freudes Bilanz von zehn Jahren Oderflut fällt trotz des Wiederaufbaus der Ziltendorfer Niederung nicht ganz so pessimistisch aus. Sein Leitsatz lautet: „Was zu machen ist, wird gemacht.“

Zum Beispiel in Lenzen an der Elbe. Dort, im brandenburgischen Teil des Biosphärenreservats „Flusslandschaft Elbe“, wird der alte Deich nicht erneuert und erhöht, sondern auf einer Länge von 7,4 Kilometer landeinwärts verlegt. Mit dieser „Deichrückverlegung“ wird bis 2008 eine zusätzliche Überschwemmungsfläche von 400 Hektar geschaffen. Gleichzeitig werden 120 Hektar Auwald gepflanzt.

Der „Böse Ort“, wie die Lenzener Elbbiegung an dieser Stelle seit Jahrhunderten heißt, wird so zum Pilotprojekt des Landes für eine andere Flusspolitik. Das loben auch die Umweltschützer: Frank Neuschulz von der Deutschen Umwelthilfe freute sich anlässlich des Baubeginns 2005: „Endlich gibt es an der Elbe ein richtungweisendes Beispiel, dem hoffentlich nun noch weitere folgen werden“.

Tatsächlich sollte dem Pilotprojekt an der brandenburgischen Elbe bereits ein weiteres gefolgt sein. Auch in Rühstädt, einige Kilometer elbaufwärts von Lenzen, hatten Freude und seine Mitarbeiter eine Deichrückverlegung geplant. Eigentlich war schon alles in Sack und Tüten, doch dann geschah, was bereits in der Ziltendorfer Niederung geschehen war: Anfang 2006 gab Brandenburgs Umweltminister Dietmar Woidke (SPD) dem Druck der Landwirte nach und entschied kurzerhand: Der Deich wird nicht rückverlegt, sondern an alter Stelle neu gebaut.

Für die, die seit dem Oderhochwasser einen anderen Umgang mit den Flüssen fordern, war das ein herber Rückschlag: „Lenzen und Rühstädt hätten zum Symbol für eine wirklich nachhaltige, ökologische Hochwasserpolitik werden können“, schimpfte der Vorsitzende des BUND in Brandenburg, Burkhard Voß. Stattdessen habe sich das Land für einen „fatalen Rückschritt“ entschieden.

Konstruktive Gespräche

Matthias Freude, für den die Deichsanierung in Rühstädt auch eine persönliche Niederlage war, setzt nun wieder ganz auf die Oder. In Neuzelle, südlich von Eisenhüttenstadt, soll mit mehr als 1.400 Hektar sogar der größte Flutungspolder Deutschlands gebaut werden. Besonders erfreut zeigt sich Freude auch deshalb, weil die Gespräche mit den Besitzern von mehr als 500 Datschen vorankommen. Auch mit dem Kleingärtnerverband gab es, so Freude, „konstruktive Gespräche“.

Noch befindet sich der Neuzeller Polder im Planfeststellungsverfahren. Wenn alles gutgeht, könne es aber bereits im nächsten Jahr losgehen. „Insgesamt“, sagt Freude, „gibt es dort sogar Flächenpotenziale von bis zu 6.000 Hektar.“

Zeit zu verlieren gibt es tatsächlich nicht. Das nächste Hochwasser an der Oder kommt so sicher wie die nächste Trockenheit in Deutschlands Osten. Und es trifft auf einen Fluss, dem seit seinem Ausbau durch Friedrich II. und der Trockenlegung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert über 80 Prozent aller natürlichen Überflutungsflächen genommen wurden.

Jeder Hektar, der nun wieder hinzukommt, ist deshalb auch ein Beitrag dazu, nicht immer auf Wunder wie in Hohenwutzen hoffen zu müssen. Immerhin kann Brandenburg bei der nächsten Jahrhundertflut nicht mehr damit rechnen, dass es so glimpflich davonkommt wie vor zehn Jahren. Dass damals „nur“ die Ziltendorfer Niederung volllief, das Oderbruch mit seinen 20.000 Bewohnern aber trocken blieb, hatte Brandenburg vor allem den Deichbrüchen in Polen zu verdanken.

Doch auch im östlichen Nachbarland sind die Deiche inzwischen erneuert und an einigen Stellen wie im Mittleren Odertal zwischen Glogau und Breslau auch rückverlegt worden. „Ein ähnliches Hochwasser wie das von 1997“, befürchtet Matthias Freude, „würde heute 1,30 Meter höher in Brandenburg ankommen als damals.“