Kolonie Wedding ruft

Auf dem Wedding blüht die Kunst. Die Projekträume und Galerien der Kunstvereinigung Kolonie Wedding präsentieren Arbeiten in einer kunstfernen Gegend und signalisieren Aufbruchsstimmung

VON LYDIA HARDER

Weddinger Idylle. Ein Dutzend Kinder wäscht fahrende Autos mit Wasserbomben, andere hüpfen auf Gullideckeln herum. Abenddämmerung taucht die Männer mit Wasserpfeifen vor dem Tele-Café in rotgoldenes Licht. Ihre verschleierten Frauen gruppieren sich zum abendlichen Plausch im Park. Plastik-Gartenmöbel werden nach draußen gestellt. Doch eine unsichtbare Wolke der Perspektivlosigkeit hängt wie Grilldunst und Shisha-Rauch über dem Wedding.

Das Quartier um den Soldiner Kiez gehört zu den vom Berliner Senat festgelegten „Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Doch das, was sich hier vor allem weiterentwickelt, ist die Ghettoisierung, könnte man meinen. Vor der Bezirksfusion war Wedding der ärmste Berliner Bezirk. Ein Großteil der Bewohner kommt aus sogenannten bildungsfernen Schichten und lebt von Sozialhilfe. Vierzig Prozent der Bewohner sind „Passausländer“, deren oftmals mangelnde Sprachkenntnisse fast unweigerlich zu Arbeitslosigkeit führen. Doch es gibt Kräfte, die den Weddinger Abwärtstrend bremsen sollen, sanft, aber kontinuierlich. Es sind die Künstler, die sich seit 2002 hier verstärkt ansiedeln und in dem Problemstadtteil eine neue Berliner Galerienlandschaft entstehen ließen. Unter dem Namen Kolonie Wedding haben sich seit 2002 inzwischen 35 Kuratoren und Kunstschaffende zu einem Verein zusammengeschlossen. Nach Wedding kamen viele Galerien und Künstler zunächst aus dem einfachen Grund, dass ihnen das Wohnungsunternehmen Degewo hier leer stehende Läden zum Betriebskostenpreis anbot.

Der Kiez und die Künstler

So kam auch Kolonie-Vorstand Josef Vilser, 52, kurze Hosen und Dreitagebart. Nach einigen Jahren Entwicklungshilfe in Südamerika und Selbstfindung in München in den Wedding. In einem urigen Atelier im Erdgeschoss einer alten Hutfabrik bringt er genormte Stahlrohre zum Erweichen und bricht sie auseinander, „die genormte Welt“. Auf den ersten Blick passen sie nicht so recht zusammen, die Weddinger Kiezbewohner und die internationalen Künstler. In der Galerie Art Laboratory Berlin in der Prinzenallee etwa, wo der regelmäßige sonntägliche Galerienrundgang „Sunday Wedding“ beginnt, empfängt eine Projektion schreiender Frauen den Besucher. Der hier zu sehende Moskauer Künstler Viktor Alimpiev setzt in Videos Sprechen und Singen als „künstlerisch-plastisches Material“ ein. Auch eine persische Künstlerin und einen armenischen Kurator will die Galerie demnächst ins Boot holen. Damit wäre zumindest der kulturelle Bogen zum Wedding geschlagen, deren Bewohner zu einem großen Teil aus dem Morgenland stammen. Doch die Leute im Kiez lässt zeitgenössische Kunst eher kalt. Die Türen zwischen den parallel existierenden Welten im Wedding öffnen will jedoch das Quartiersmanagement. Durch die Zuschüsse des Senats können sich drei Mitarbeiter im Soldiner Kiez sozialen Projekten widmen. Ein Islamwissenschaftler, eine türkische Sozialarbeiterin und eine PR-Agentin suchen den Kontakt zu den Anwohnern. Sie veranstalten Straßenfeste, bieten Kurse zur Sprachförderung und unterstützen auch die zugezogenen Kunstschaffenden. Ihr jüngstes Ziehkind war eine internationale Ausstellung zum Thema Krieg, mit dem Titel „Homo Bellicus“, die vor kurzem stattfand. Was in der Kunst symbolisch passiert, verweist auf ein reales Problem: Das Quartiersmanagement weiß, wie wichtig es ist, Leute von außerhalb zu holen. Denn hier fehlt es an Infrastruktur, an einer guten Durchmischung der Bevölkerung, an jungen Familien und Leuten mit Kaufkraft. „Die ziehen spätestens dann weg, wenn ihre Kinder eingeschult werden“, erzählt Nicola Boelter, die für die Öffentlichkeitsarbeit im Quartiersmanagement zuständig ist. In den Schulen stammten die Kinder mitunter aus 30 verschiedenen Ländern, pro Klasse sei oft nur eines deutscher Herkunft. „Selbst die Deutschen hier sprechen manchmal kein richtiges Deutsch.“ Michail Molochnikov tut das auch nicht, aber das ist egal. Räucherstäbchenschwaden und Sitar-Musik in seiner Galerie Art Digital lassen die Lebensphilosophie des Russen mit dunklen Augen, Bart und wilden Locken erahnen. Zu seinem Werk gehört ein schmales, ein Meter langes tentakelförmiges Objekt. „Telefonieren, Buddha“, sagt er und hebt eine seiner Figuren ans Ohr.

Auch im Projektraum Space Untitled von Michaela Strumberger, 35, sind eigene Arbeiten der Künstlerin zu sehen. Die blonde Frau mit spitzbübischem Blick produziert Skulpturen wie etwa Damenschuhe im Hundehaufen und betitelt die Bilder und Skulpturen ihrer monsterhaften Putten mit Goethezitaten. Ihr provokativstes Werk ist ein schlafender Gnom, in einer Glaskugel an die Wand genagelt. An ihm ist ein Apparat angeschlossen, aus dem ein abgestorben aussehender Arm mit erhobenen Mittelfinger ragt. „Wirft der Besucher einen Euro hinein, erwartet er irgendwelche Spezialeffekte für sein Geld“, sagt Michaela Strumberger. Stattdessen aber ragt ihm der Stinkefinger entgegen. Auf Interpretationen zur Kunst in den lokalen Galerien lasse sich der Kiezbewohner nur selten ein, gibt Strumberger zu. Dennoch schicken ihr die Anwohner manchmal ihre Kinder vorbei, damit sie ihnen Tipps für den Kunstunterricht gebe.

Mittes Gegenpol

Es sei gerade die Entfernung vom Mitte-Hype, die die Künstler im Wedding zur Kreativität beflügele, erklärt die Kunsthistorikerin Regine Rapp, 35, von der Galerie Art Laboratory. „Der Wedding ist eine kreatives Gegengewicht zum konservativen Establishment.“ Hier sei man autonom, keinen kommerziellen Zwängen unterworfen und damit viel freier in Entscheidungen. Die Wedding-Bewegung erinnert an die Entwicklung in New York, als Musiker und Künstler plötzlich genug hatten von der City und nach Williamsburg in Brooklyn abwanderten. Denn auch die künstlerischen Pfade im Soldiner Kiez sind noch nicht so ausgetreten wie in der Auguststraße in Mitte. Doch zwischen den bunten Farbklecksen des Weddinger Lebens mischt sich immer wieder der andere Wedding. Das sind Jugendliche, die Galerie-Fensterscheiben mit Steinen einschlagen, an Ateliertüren hämmern und Vernissagen stören. „Lässt man einen Beamer über Nacht in der Galerie, ist er am nächsten Tag ganz sicher weg“, erzählt Nicola Boelter vom Quartiersmanagement. Um die Randalierer besser in den Griff zu kriegen, setzt sie ständig neue Projekte um. Zu ihnen zählen die „Cool Steps“: Junge Erwachsene sprechen die Kinder auf den Straßen auf ihre Sorgen und Probleme an und versuchen, Streit zu schlichten.

Die Künstler zahlen für ihre kreative Freiheit im Wedding aber nicht nur wegen der spezifischen Weddinger Probleme einen hohen Preis. Denn nur wenige Kunstinteressierte aus dem Rest von Berlin verirren sich hierher, erzählt Kolonie-Chef Josef Vilser im Hinterhof seiner Hutfabrik. Von der Kunst leben? Er schüttelt nur den Kopf. Schwierig schon allein deswegen, weil die Galerien keine Öffnungszeiten haben, nur am „Sunday Wedding“ und nach Absprache öffnen. „Es gibt kein Geld dafür, die ganze Woche über jemanden in den Laden zu stellen.“ Seine Hoffnung ist nun, dass mehr Anerkennung vom Rest der Berliner Kulturlandschaft herüberschwappt, über die unsichtbare Mauer um den Wedding. Und es würde auch den Kiezbewohnern helfen, wenn sich das Image ihres Viertels ein bisschen polieren ließe. Wenn auch mal über die schönen Seiten gesprochen wird statt immer nur über den Problemstadtteil. Und da kommt die Kunst gerade recht. Egal, ob jeder Weddinger sie nun mag oder nicht.

Informationen zu aktuellen Ausstellungen: www.koloniewedding.de